Zum 200. Todestag von Johann Gottfried Seume – seine Beziehung zum Weserland und zu Karl Ludwig August Heino Freiherr von Münchhausen
von Bernd Bruns
Vortrag, gehalten am 19.6.2011 als "Matinée in der Pfortmühle", siehe auch: Jahrbuch 2010 des Museumsverein Hameln, S. 76-91
Johann Gottfried Seume (1763 – 1810) gehört wohl nicht zu den ganz „großen“ Autoren jener Zeit um 1800, aber er hat seinen bleibenden Platz in der deutschen politischen und geistigen Geschichte gefunden. Auch wenn seine Popularität und Nachwirkung heute nicht besonders ausgeprägt erscheinen, so erinnert man sich doch seiner als eines unermüdlichen Wanderers (bis nach Syrakus und Moskau) und Reiseschriftstellers, eines deutschen aufrechten Patrioten, der gegen jede Form von Fremd- oder Feindherrschaft wetterte, eines politischen Denkers und Kritikers der Spätaufklärung.
Seiner Begegnung mit unserer Region soll hier nachgegangen werden, die - und das sei schon vorweggenommen – von eher negativer Art war, während hingegen ein Schaumburger Adliger zu einem seiner besten Freunde werden sollte. Doch zunächst möge kurz Seumes Werdegang skizziert werden, bevor er als Zwangsrekrutierter den Weserraum betritt bzw. durchfährt
Seumes Jugendjahre
Johann Gottfried Seume wird am 29.1. 1763 in Poserna bei Weißenfels (damals Kurfürstentum Sachsen) als Sohn eines Bauern und späteren Gastwirtes (in Knautkleeberg) geboren. Während der Hungersnot von 1771 verarmt die Familie (mit 5 Kindern) und gerät vollends in Not, als der Vater 1776 stirbt. Graf Friedrich Wilhelm von Hohenthal-Knauthain nimmt sich der Ausbildung des begabten Jungen an und finanziert dessen Schulbesuche in der Dorfschule in Knauthain, der Stadtschule in Borna (1777-79) und der Höheren Schule in Leipzig (1779-80, Nicolaischule). 1781 beginnt Seume ein theologisches Studium in Leipzig. Bereits nach einem knappen Jahr gerät er in eine religiöse und existentielle Krise, bricht sein Studium ab und verlässt Leipzig in Richtung Paris und Metz, um auf die dortige Artillerieschule zu gehen. Sein Wunsch: Offizier zu werden, ein Wunsch, der für Nicht-Adlige nur in Frankreich zu erfüllen ist. Doch bereits bei Vacha (in der Nähe von Bad Salzungen, heute Wartburgkreis), das bis 1816 zu Hessen gehörte, fällt der 18jährige fast mittellose Studienabbrecher hessischen Soldatenwerbern in die Hände.
Was ist dieser Johann Gottfried Seume für ein Mensch? Das einschneidendste Erlebnis seiner Kindheit ist sicher der frühe Tod des geliebten Vaters. Für Seume bleibt er stets ein Vorbild an Geradlinigkeit, Gerechtigkeitssinn und Wahrheitsliebe, Charakterzüge, die auch den Sohn auszeichnen. Demütigungen, die der Vater als Pächter erleiden musste, haben dem Sohn psychische Schmerzen bereitet. In seiner Fragment gebliebenen Autobiographie „Mein Leben“ schreibt er, dass diese Erniedrigungen „mit Ursache meiner folgenden tief koncentrierten nicht selten finster mürrischen Sinnesweise“ seien. „Ich habe die Katastrophe nie los werden können, ob ich gleich selten oder nie davon gesprochen habe“. 1 Zeitlebens wird er übersensibel reagieren, wenn er mit Ungerechtigkeiten konfrontiert wird.
Als Schüler ist er – nachdem der Knoten geplatzt war – der anerkannte Primus und glänzt besonders in der Bibelkenntnis und durch ein „musterhaftes Gedächtniß“. Zunächst will er Dorfschulmeister werden, während ihn seine Mutter gern als zukünftigen Pastor gesehen hätte. Er lernt leicht, vor allem Latein, Griechisch und auch Hebräisch und verfasst sogar eigene Verse in lateinischer und griechischer Sprache. „Studieren“, schreibt er, „war mir Bedürfniß“.
Gewissermaßen im Kontrast dazu zeigt sich eine andere Neigung des Schülers und Studenten: seine Liebe zu allem Militärischem. Schon in seiner Bornaer Zeit zieht er sich eine Rüge des Rektors zu, als er mit einer zufällig entdeckten Reiterpistole ein Scheibenschießen veranstaltet. Während seiner Leipziger Zeit verbringt er gegen den Willen des Schulleiters zwei Tage in einem Militärlager, um einem Manöver beizuwohnen. „Nichts kitzelt einen jungen Menschen mehr“, schreibt er, „als militärische Unternehmungen[...] zu sehen, wo der menschliche Erfindungsgeist und die menschliche Kraft vereint mit furchtbarer Anstrengung für moralische, politische oder physische Existenz kämpfen“. 2 Besonders interessieren ihn militärtechnische Fragen, Bewaffnung und Geschütze und er vergleicht die Waffentechnik der Antike mit der der Neuzeit. Zeitlebens wird er ein Faible für dieses Thema haben und selbst darüber schreiben und mit der Abhandlung „Arma veterum cum nostris breviter comparata“ zum Magister promovieren und sich später habilitieren.3
Seumes Lebensführung ist gekennzeichnet durch einen ausgeprägten Hang zur Natur und Natürlichkeit. „Meine Seele hatte von der frühen Kindheit an unbestimmt sehr an der Natur gehangen; dieß ward nun zur Neigung. Das Einfachste war immer das liebste; ein gutes Butterbrot und reines Wasser mein bester Genuß.“ 4 Diese Einstellung, also die Vorliebe für Einfachheit und Ungekünsteltheit, seine Anspruchslosigkeit, prägt sein gesamtes Leben, natürlich auch bedingt durch die prekären Verhältnisse, die sein Leben bestimmten.
Aber auch seine Neigung zur schönen Literatur und zur Musik wird früh geweckt und gefördert. Er enthusiasmiert sich für alles „Große, Gute und hohe Schöne“. „Die Theaterneigung bemächtigte sich bald meiner bis zur Epidemie“ und die Wirkung der Musik auf ihn bleibt zeitlebens eine bedeutsame. Seine ästhetischen Grundsätze verdankt er dem Studium der Alten, vor allem der griechischen Literatur, wobei Anakreon neben Homer seine Lieblingsdichter bleiben. „Die schönsten Stellen sind immer die einfachsten; und es ward mein ästhetisches Glaubensbekenntniß: Wer nicht in wenig Worten ein rührendes Gedicht, in wenig Strichen eine schöne Zeichnung und in wenig Takten eine vielwirkende Musik hervorbringe, sei nie der Liebling der Musen gewesen.“ 5
Das Studium an der Leipziger Universität befriedigt Seume nur teilweise. Neben theologischen liest er systematisch philosophische und auch politische Schriften, vor allem jene der englischen Aufklärer, und fühlt sich in seiner Kritik an kirchlicher Mystik und Orthodoxie bestätigt. Jeder Volksglaube ist ihm heilig, aber Dogmen lehnt er ab: „Ich verehre Moses, Christum, aber nach meiner Weise und nicht nach dem System. Heuchelei war mir unerträglich; ich sagte immer nur, was ich dachte, ob ich gleich nicht alles sagte, was ichdachte. Das heilige Palladium [Schutzbild] der Menschennatur sind die Gedanken unter der Ägider der Vernunft.“ 6
In diesem Zwiespalt zwischen geforderter Anerkennung der kirchlichen Lehre und seinen begründeten Zweifeln an dieser Auslegung und angesichts einer drohenden Aussetzung seines Stipendiums durch seinen Gönner, den Grafen Hohenthal, sieht Seume, will er sich treu bleiben, nur einen Ausweg: Abbruch des Studiums und Flucht ins Ausland. Lediglich der Gedanke an seine geliebte Mutter macht ihm Sorgen. Dennoch: Er begleicht seine Schulden und macht sich, „ohne irgend jemand eine Sylbe gesagt zu haben“, zu Fuß auf den Weg nach Paris, um von dort aus in Metz eine militärische Laufbahn zu beginnen. Es ist Ende Juli 1781; der 18jährige ist von nun an ganz auf sich gestellt und hat eine ungewisse Zukunft vor sich.
Seume als Söldner – seine Weserfahrt
Kaum betritt der Ex-Student hessischen Boden, wird er von Soldatenwerbern geködert, die im Auftrag ihres Landesherrn, des Landgrafen Friedrich II von Hessen-Kassel, tätig sind. Dieser lässt auf mehr oder weniger gewalttätige Art junge Männer auf seinem Territorium zwangsrekrutieren, die er als Söldner skrupellos ins Ausland verkauft bzw. vermietet, so z. B. an den englischen König Georg III, der dringend Soldaten benötigt, um seine amerikanischen Kolonien zu verteidigen.
Seumes Reaktion auf diese Art Kidnapping ist ambivalent. Einerseits verurteilt er jede Art von Seelenverkauf und Zwangsverpflichtung, andererseits bringt sie ihm seinem Wunsch, die Offizierslaufbahn einzuschlagen und zu neuen Abenteuern aufzubrechen, näher. Er findet sich daher relativ schnell mit der neuen Lage ab und arrangiert sich. Die Rekruten werden auf die hessische Festung Ziegenhain gebracht, wo sie für ihren Einsatz in Amerika gedrillt werden. Es ist ein bunter Haufen, Männer aller Couleur, aus denen Seume durch seine Intelligenz herausragt, so dass der
Kommandeur der Festung ihn zu seinem Schreiber macht Eine Verschwörergruppe von ca. 100 Rekruten möchte Seume zu ihrem Anführer machen. Er wird jedoch rechtzeitig gewarnt, bevor der Coup verraten wird. Die Strafen sind drakonisch, Seume kommt mit einer Arreststrafe davon.
Im Frühjahr 1782 nun werden diese Rekruten, es mögen etwa 1000 gewesen sein, wie Gefangene von Ziegenhain in die Hauptstadt Kassel geleitet, um sie dem Landesherrn vorzuführen, und dann nach Hannoversch Münden „spediert“. Hier nun betritt Seume erstmals den Weserraum, und vom 10. April bis zum 30. Mai wird er den gesamten Verlauf der Weser (444 km) befahren, bevor er endgültig Deutschland in Richtung Neue Welt verlassen wird. Freilich ist er kein Tourist mit Augen für Landschaft und Kulturgüter und er reist auch nicht freiwillig auf dem Weserstrom, sondern eingepfercht auf engen Bockschiffen und Tag und Nacht von Gendarmen und Jägern bewacht. Es ist einer der letzten Söldnertransporte nach Nordamerika ( insgesamt etwa 12000 Menschen sind davon betroffen). Dennoch scheint er der Schiffsfahrt, so weit es denn möglich war, durchaus Positives abgewonnen zu haben: „Ich genoß, trotz der allgemeinen Mißstimmung, doch die schöne Gegend zwischen den Bergen am Zusammenfluß der Werra und Fulda, die dort die Weser bilden, mit zunehmender Heiterkeit. Das Reisen macht froher, und unsere Gesellschaft war so bunt, daß das lebendige Quodlibet [buntes Durcheinander] alle Augenblicke neue Unterhaltung gab. So ging es denn auf sogenannten Bremer Böcken den Strom hinab.“7
Der „Bremer Bock“ war der größte der im 18. Jahrhundert von der Weserschifffahrt benutzten Schiffstypen. In einer Sitzbank konnte ein Mast eingesetzt werden, an dem sich ein Segel hissen ließ, so dass sich das Schiff bei günstigem Wind wesentlich beschleunigen ließ. Es waren besonders flachgängige Fluss-Schiffe in Holzbauweise, die bis in die Neuzeit auf der Weser verwendet wurden. Der Bock war über 30 m lang und knapp 3 m breit und hatte eine Tragfähigkeit von 90 bis 100 t. 8 Mannschaft und Ware konnten vorn und hinten in offenen hölzernen Schutzbauten untergebracht werden. Ob er im Verbund mit Achter(Hinter)hang und Bullen oder als Einzelschiff benutzt wurde, geht aus den Unterlagen nicht hervor, aber ein jeder Bock besaß eine Jolle, die als Beiboot benutzt werden konnte, und entspechende Zugleinen zum Treideln.
Seume hält in der o. g. Autobiographie (die erst posthum erschienen ist und diese bereits 30Jahre zurückliegende Weserfahrt aus der Erinnerung heraus beschreibt), drei Ereignisse fest, die ihm besonders mitteilenswert erscheinen.
Sachse kontra Preuße
„Nicht weit von Hameln, glaube ich, machte man eine Absonderung der Preußen, die man nicht durch Preußisch-Minden bringen durfte, und ließ sie einen Marsch zu Lande mache, um das Preußische zu vermeiden. Da mir das zusammengedrückte eingepökelte Wesen auf den kleinen langen Fahrzeugen nicht sonderlich behagen wollte, meldete ich mich als Preuße beym Verlesen. Der Offizier sahe in die Liste und sagte, hier steht ja ein Sachse. So? Sagte ich; nun so will ich ein Sachse bleiben. Er schwieg, ließ mich aber, nachdem alle verlesen waren, mit den Preußen aussteigen.“9 So verlässt also Seume in Hameln sein Transportschiff und wird zusammen mit seinen preußischen Mitsöldnern auf Hannoverschem Gebiet um die preußische Weserenklave Minden herumgeführt, bis diese Gruppe wieder unterhalb dieser Stadt (in Stolzenau) eingeschifft werden konnte. Vorher wurde er aber noch Zeuge eines Komplottes seiner Mitstreiter (vermutlich in Rodenberg), das aber von Bürgerwehr und Bewachern mit Gewalt unterbunden wurde.
Lektüre kontra Abstumpfung
Dass Seume auch während seiner Soldatenzeit nicht auf seine geliebten Lateiner und Griechen verzichten wollte, zeigt folgende Stelle aus „Mein Leben“: „Ich hatte damals die Gewohnheit, ein Buch zwischen Weste und Beinkleider unter den Gürtel zu stecken. Das Buch mochte dießmal etwas zu stark seyn und den Leib etwas unförmlich machen. `Was Teufel, ist der Kerl schwanger?`
sagte ein Hauptmann Lesthen, der eben vor mir stand, und hob die Weste beym Flügel auf, und es wurde der Julius Cäsar zu Tage gefördert. `Was Henker, macht Er denn mit dem Buche?` fuhr er fort. Ich lese darin; war meine Antwort. `Wo hat Er denn das Latein gelernt?` Das Latein pflegt man gewöhnlich in der Schule zu lernen. Er schüttelte den Kopf. Ich hatte in dem Buche eine Menge Randnoten aus dem Vegez, Frontin und andern Alten und Neuen, auch wohl von mir selbst niedergeschrieben. `Von wem sind denn die Bemerkungen hier?` Von mir; und vor mir von den angegebenen Herren. Er sah mich fest an und endigte mit dem spöttischen Abschied: `Er wird wohl einmal ein recht großer Mann werden.`“ 10
Sein Leben lang wird die Lektüre Seume begleiten, nie wird er sein Ränzel schnüren, ohne einen Band Homer oder Anakreon, Vergil oder Horaz, Hölty oder Hagedorn eingepackt zu haben. Die Literatur ist für ihn Lebens- und Überlebensmittel und hält ihn gerade in Zeiten großer Not, kriegerischer Wirren oder individueller Verzweiflung buchstäblich über Wasser (und auf den Beinen).
Gerechtigkeitssinn kontra Unrecht
Aufgrund seiner „stoischen Genügsamkeit“ und seiner „Humanität“ sehen seine Schicksalsgenossen in Seume schon früh eine Art Vorbildfigur. Seine Aufrichtigkeit, sein Gefühl für Recht und Gerechtigkeit ist sprichwörtlich. So wählt die Mannschaft seines Schiffes ihn einstimmig zum Deputierten, als es darum geht, die mehrfach beklagte Unrechtmäßigkeit der Proviantierung des Konvois zu überprüfen. Die Verpflegung der Söldner war nämlich, wir würden heute sagen, outgesourct. Ein privater „Enterpreneur“ (Unternehmer) ließ auf einem gesonderten Kahn, dem Kochschiff, das Essen für alle zubereiten und kassierte dafür fast den gesamten Sold der Soldaten. „Wir wollten so viel als möglich essen, und er wollte so viel als möglich gewinnen, welches sich zusammen nicht wohl vertrug.“ Der Kommandeur der Expedition, Oberst von Hatzfeld, ermahnte zwar den „Gewinnsüchtigen“, dies half aber nicht viel, so dass jedes Schiff reihum einen Deputierten wählte, um die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Die meisten dieser Deputierten ließen sich aber bestechen, nicht so Seume. Er bestand auf korrekte und komplette Essensausgabe und verhinderte energisch, dass die Restmenge des von den Rekruten bereits bezahlten Essens gegen (erneute) Bezahlung an die Wachmannschaften ausgegeben wurde und teilte sie diesen selbst unentgeltlich zu. Diese Tat erfüllte ihn mit Genugtuung. „und das Bewußtseyn macht mich stolz, daß ich als erster Volksdeputierter, trotz jeder Versuchung, Schmeichelei oder Drohung, mit eben der beharrlichen Entschlossenheit würde gehandelt haben.“ 11
Seumes (späterer) Freund Münchhausen und dessen Bericht über die Weserfahrt von 1782
Seumes Darstellung dieser Weserfahrt des Jahres 1782 fällt recht kurz, einprägsam, aber eher anekdotenhaft aus. Wir besitzen aber ein weit ausführlicheres Dokument dieser Fahrt, und zwar verfasst von seinem späteren Freund Karl Ludwig (alias Clodwig) August Heino Freiherr von Münchhausen. Dieser gehört zur sog. „weißen Linie“ derer von Münchhausen, deren weitverzweigtes Geschlecht im Weserraum und in Mitteldeutschland beheimatet ist 12 Er wurde am 17.2.1759 im damals hessischen Klein-Oldendorf (heute Hess.Oldendorf) geboren, und zwar im Stammsitz derer von Münchhausen, das damals noch von einem Weserarm umspült wurde. 1780 trat er in hessische Dienste und begleitete freiwillig als Offizier jenen Truppentransport nach Nordamerika, dem auch Seume angehörte. Allerdings lernte er Seume erst in Halifax (damals Hauptort der britischen Kolonie Neuschottland, heute Kanada) kennen, dem Bestimmungsort des Transportes. Karl Ludwig August Heino Freiherr von Münchhausen nun hielt die Ereignisse der Weserfahrt in einem Tagebuch fest. Es ist bisher nicht in Buchform veröffentlicht, aber als Manuskript im NLA-Staatsarchiv Bückeburg einsehbar. Sein Titel: „Umständliche Beschreibung deß abmarsches, auf dem Weser-Strohm, derer Hessischen nach America bestimten Recruten, von Cassell ab, bis zur ankunft der Englischen Flotte, an der Mündung der Weser bey Bremerlehe, aufgezeichnet durch den Fendrich Münchhausen bey hochfürstl. durchl. des Herrn Landgraven Regiment in America“13
15 Seiten umfasst das Journal, in dem der Fähnrich Tag für Tag die Ereignisse des Tages festhält, so dass wir einen recht genauen Einblick in diese Weserfahrt der Zwangsrekrutierten erhalten, allerdings gesehen aus der Perspektive eines der Begleitoffiziere. Es umgreift den Zeitraum vom 9. April bis zum 31 Mai 1782. Schwerpunkte des Berichtes sind neben den Unbillen des Wetters und dem Kampf mit der Strömung der Weser vor allem Unglücksfälle (Ertrinken, Havarien) und Desertionen und Revolten der Rekruten, aber auch Formen des Zeitvertreibs und Bekanntenbesuche unterwegs.
Am 14. April notiert er beispielsweise: „Wie wir bey Bodenwerder vorbey fuhren, so musten wir absolutemen einen augenblick bey dem Rittmeister von Münchhausen abtreten (?), stehendes fußes etwas bey ihm essen, und so setzten wir uns gleich wieder auf die Pferde, welche selbiger vor uns parat hilte, und jagen dehnen Schiffen nach, welche wir kaum mit traben und galop einzuholen imstande waren.“ Also Kurzvisite mit seinem Vetter beim bodenwerderschen Verwandten und Wiedereinholen des Schiffkonvois kurz vor Grohnde („Grone“), wo dieser vor Anker ging. Der Rittmeister von Münchhausen ist kein anderer als Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen, der bekannte „Lügenbaron“ (1720-97), „Erbherr auf Rinteln, Schwöbber und Bodenwerder“, der sich nach seinem Russland-Abenteuer ab 1750 auf sein Gut in Bodenwerder zurückgezogen hatte. 14
Am 15. April erreichen die Schiffe die Rattenfängerstadt. Das Durchschleusen in Hameln war allgemein gefürchtet und nahm viel Zeit in Anspruch. Es handelt sich um jene allererste Schleuse von 1734, von der heute auf dem Werder nur noch der untere Vorhafen sichtbar ist. Am 16. April hält Münchhausen fest: „gestern abend bliben wir über [gegenüber] der Schleuse zu Hameln, alwo wir diesen morgen anfingen durch zufahren, welches bis nachmittages 3 uhr dauerte, in der Schleuse, fil uns ein Recrut, in das wasser, wurde aber gerettet; heute noch eben denselben tag bis Rumbeck gefahren, und weiter nichts neues, als eine incomode [unbequeme] fahrt in unsern Back-trögen, weill es etwas ungestühm wetter war, wir wurden einige mahl, mit dehnen ungeschickten fahrzeugen, bey geringem winde, auf die Schlachten 15 geworfen, wobey das possirlichste ist, das allemahl die Recruten unter das vordeck müssen, und die jäger mit der Büchse, zum feuern, ordentlich auf dem anstande stehen müssen, um wen(n) einer entwischen wolte, selben sogleich zu schißen.“
Derartige Vorfälle sollten sich noch mehrfach ereignen: Die Böcke schlugen ans Ufer oder aneinander oder wurden abgetrieben, Anker wurden verloren, Ruder zerbarsten, die Rekruten nutzten dabei jede Gelegenheit zu entkommen oder protestierten und mussten gewaltsam zur Raison gebracht werden. Auch Münchhausen berichtet – wie es schon Seume andeutet – über die Revolte der auf dem Landweg von Hameln über Rodenberg nach Stolzenau eskortierten Rekruten preußischer Herkunft. Unter dem 23. April gibt er u.a. den Rapport eines Unteroffiziers vom Regiment Prinz Friedrich wieder: „...die leuthe weren so erboset gewesen, daß sie sich von nimandt hätten wollen befehlen laßen, auf dem marsche; und in Rodenberg, hätten sie das Schloß anstecken wollen, und hätten in dehnen Zim(m)ers worin sie logirt hätten, meßer in die thüren gesteckt, und gesagt, der erste welcher sich unterstünde, hinein zu kom(m)en, dem wolten sie den hals abschneiden, oder erstechen, er mögte seyn officir oder unterofficir, ja sie seyn sogar so ungezogen gewesen, daß wen(n) sie einen officir oder unterofficir auswändig erblickt haben, so haben sie gerufen/: Asinus heißet / mit dem finger auf sie zeigend /: der esell. Endlich hat sie ein unterofficir von Printz Friedrich mit nahmen Heller, wider zur ruhe gebracht, daß wir sie heute also alle, glücklich wider auf die schiffe bekahmen.“
Nichtsdestotrotz genießt der Fähnrich von Münchhausen die Weserfahrt, besucht mit seinem Bruder von Rinteln aus das Vaterhaus in (Hessisch-)Oldendorf oder lässt sich von seinen Verwandten besuchen, zeigt der Fürstin von Bückeburg sein Schiff und speist mit ihr bei seinem Onkel, dem Herrn Präsidenten, in Rinteln. Hier handelt es sich um Wilhelm Werner Heinrich Freiherr von Münchhausen, Ex-Obrist und Landrat in Rinteln, einem Bruder des sog. Lügenbarons. In Minden lässt er sich erneut von Bekannten besuchen, verpasst aber in Nienburg die Besichtigung eines Familienepitaphs, da die Flotte dort nicht anlandet, geht aber dafür in Drakenburg und auch in Hoya an Land, um seiner Lieblingsbeschäftigung, der Jagd, zu frönen. Was Minden anbelangt, so beschreibt er die Schwierigkeiten, die Böcke einzeln rückwärts und von Tauen gezogen unter der engen Brücke hindurch zu bugsieren, und wie ein Rekrut diese Gelegenheit zur Flucht zu nutzen versucht. In Bremen besichtigt er die „Merckwürdigkeiten der Stadt“, z. B. das Zeughaus, wo ihn besonders die geschnitzte Figurengruppe eines grönländischen Fischerpaares auf einem Lederschiff interessiert, den Bleikeller samt „seiner unverweseten cörper“, das große Schöpfrad an der Brücke, die Zimmerwerft, den umfangreichen Weinkeller, die Bibliothek, den Schütting, das Naturalienkabinett und den Roland, Sehenswürdigkeiten, die natürlich der quasi Gefangene Seume auf dieser Fahrt nicht zu Gesicht bekommt.
Nachdem der Konvoi Stürme, Starkregen, Schnee und Frost, Krankheiten, Unglücksfälle (am 10. Mai heißt es z. B.: „heute ist uns ein armirter [bewaffneter] jäger, mit sambt der büchse in das wasser gefallen und ersoffen“) und etliche geglückte, aber auch vereitelte Fluchten der Rekruten überstanden hat, wartet er längere Zeit in Bremen und dann in Vegesack. Denn einerseits verhindert der Sturm ein Fortkommen und andererseits sind die englischen Transportschiffe noch nicht in Bremerlehe (heute Teil von Bremerhaven) eingetroffen. Endlich, am 29. Mai 1782, vermeldet der Fähnrich von Münchhausen: „von Vegesack abgefahren, des abends um 5 uhr, weil die Englischen schiffe zu Bremer-Lehe angekom(m) seyn, es sahe sehr prächtig aus, als unsere Flotte, von 30 bis 40 an der zahl, in vollem seegell, den Weser-Strohm hinab lif, es war heute abend das schönste wetter, wir erreichten um 7 uhr Elsfleet, alwo wir ankerten.“ Zwei Tage später erreicht der Flottenverband seinen Bestimmungsort, Bremerlehe. Die hessischen Soldaten werden von englischen hochseetauglichen Schiffen übernommen und dann über den Atlantik nach Kanada transportiert.
Der letzte Eintrag des „Journals“ lautet: „d. 31. mey 1782. Heute seyn wir Embarquirt [eingeschifft] worden, es dauerte bis um 4 uhr nachmittages, ich habe 200 köpfe, und noch einen officir, auf mein schiff bekom(m)en, welches den nahmen chüdleids führet,mein Schiff-capitain heißet Kingston, welches der braveste, vernünftigste, und woll der beste man(n) bey der gantzen Transport-Flotte ist; so schlecht wir es auf den ungeschickten Böcken, und vorigen schiffen gehabt haben, so guth haben wir es hier.“
Ganz anders als der Offizier sieht dies der Rekrut Seume in seiner Biographie: „In den englischen Transportschiffen wurden wir gedrückt, geschichtet und gepökelt wie die Heringe“ 16 Auf jeden Fall: Jetzt beginnt für beide das noch größere Abenteuer. Nach 22 Wochen (gewöhnlich dauert diese Fahrt damals etwa 4 Wochen) erreichen die Schiffe endlich Halifax, den Hafen der britischen Kolonie Nova Scotia. Die Rekruten sind von Hunger und Krankheit gezeichnet („Krankheiten nahmen sehr überhand; doch starben von ungefähr fünf hundert Mann nur sieben und zwanzig, wenn ich nicht irre“, schreibt Seume 17 Mehr als ein Jahr lang wird Seume, der zum Unteroffizier (Sergeant) ernannt wird, in Halifax zubringen, bis er - nach dem Friedensschluss von Versailles 1783, durch den die Briten die Unabhängigkeit der USA anerkennen – wieder nach Deutschland zurücktransportiert wird. In kriegerische Auseinandersetzungen wird er dabei – fast zu seinem Bedauern – nicht verwickelt.
Seume, Münchhausen und die Dichtung
In seine Kanadazeit fallen drei für Seume wichtige Begegnungen bzw. Erfahrungen: Er entwickelt sich zum Dichter, er lernt einen wichtigen Freund kennen, er respektiert die Indianer als gleichwertige Menschen. Hier beginnt Seume mit dem Niederschreiben seiner Erlebnisse, die erstmals 1789 erscheinen werden („Schreiben aus America nach Deutschland“), und hier verfasst er Gedichte und Lieder, die meist Selbsterlebtes verarbeiten. Das bekannteste, das allerdings erst später entstand, aber auf seine Begegnung mit den Indianern (vom Stamm der Mohawks oder Mohikaner, Seume nennt sie „Huronen“) zurückzuführen ist, trägt den Titel „Der Wilde“ mit den sprichwörtlich gewordenen Zeilen:
„Ruhig lächelnd sagte der Hurone:
`Seht, Ihr fremden, klugen, weißen Leute,
Seht, wir Wilden sind doch bess`re Menschen!`
Und er schlug sich seitwärts in die Büsche“ 18
Dieses zivilisationskritische Gedicht, das den weißen verdorbenen und heuchlerischen Europäer in Kontrast setzt zu dem reinen und human denkenden „Wilden“, veröffentlicht Schiller in seiner „Neuen Thalia“ (1793) und zeigt Seumes Vorliebe für Natürlichkeit und Redlichkeit und seine Einstellung im Sinne der Aufklärung. Es beginnt mit den bekannt gewordenen Zeilen
„Ein Canadier, der noch Europens
Uebertünchte Höflichkeit nicht kannte
Und ein Herz, wie Gott es ihm gegeben,
Von Cultur noch frei, im Busen fühlte...“
J. J. Rousseau lässt hier grüßen und Seume bekennt im Vorwort zur zweiten Ausgabe seiner „Gedichte“ von 1804: „Ich habe nun einmal die Krankheit, daß mich Alles, was Bedrückung, Ungerechtigkeit und Inhumanität ist, empört, und werde wol schwerlich ganz davon genesen.“ 19
Übrigens wurde noch ein zweites Gedicht Seumes („Die Gesänge“) sprichwörtlich und fand Eingang in die deutschen Lesebücher:
„Wo man singet, lass` Dich ruhig nieder,
Ohne Furcht, was man im Lande glaubt;
Wo man singet, wird kein Mensch beraubt:
Bösewichter haben keine Lieder.“ 20
Der Volksmund dichtete allerdings um: „Wo man singt, da laß´dich ruhig nieder;/Böse Menschen haben keine Lieder.“
Auch die Zwangs-Weserfahrt selbst wird zum Thema seiner Dichtung. So heißt es in einer Art Reimspiel oder gereimten Briefen unter dem Titel „Zwei gereimte Episteln“ locker und scherzhaft:
„So weiß ich, ich lag
Einst bei Vegesack
Im Schiffe und fror
Erbärmlich ums Ohr,
Und zitterte baß
Als wäre im Spaß
Mir Magen und St...
Geworden zu Eis.
[...]
Das war eine Noth;
Wir hatten kein Brod,
Und froren wie Hunde
Und fluchten die Runde
[...]
Trotz Zittern vor Frost
Schritt ich nun behende
Erwärmt und getrost
Nach herrlicher Kost
Heraus an die Weser
Und schöpfte mir fein
Im Mangel der Gläser
Herab von der Jolle
Die volle Kastrolle [Art Pfanne]
Zwar Wein nicht vom Rhein,
Nein Fluthen der Weser
Zum Nektartrank ein...“ 21
Die „eiserne Sprödigkeit und herzliche Traulichkeit“ samt einer gewissen Skurrilität, die sich hier vereinen, sind durchaus charakteristisch für einen Teil der (heute weitgehend vergessenen) Seumeschen Gelegenheitsdichtung.
Im Halifaxer Lager kursiert damals besonders ein Gedicht Seumes, das sog. „Trauerlied von Ziegenhain“, das die Soldaten in Erinnerung an ihre schlimme Festgungszeit singen. Dies kommt auch dem Leutnant von Münchhausen zu Gehör; er fragt nach dem Verfasser und wird auf den Sergeanten Seume verwiesen. Er bestellt ihn zu sich und so beginnt eine fast lebenslange Freundschaft zwischen diesen beiden Männern. Was sie trennt sind die Standes- und Rangunterschiede, was sie eint, ist ihre Liebe zur Literatur und Kunst und besonders zur Lyrik. Dabei profitiert der vier Jahre ältere Adlige von Seumes Belesenheit und Kenntnissen antiker und zeitgenössischer Autoren, und dieser wiederum findet einen aufgeschlossenen Gesprächs- und Diskussionspartner. Fast täglich sind sie zusammen, gehen auf Jagd und Fischfang, durchstreifen Küste und Hinterland, essen gemeinsam, lesen fremde und verfassen eigene Gedichte.
In seinen Aufzeichnungen „Rückblick auf verlebte Tage“ (1953 erstmals veröffentlicht) schildert Karl Ludwig August Heino Freiherr von Münchhausen seine Begegnung mit Seume: „Eine Duodez-Ausgabe von Homer und vom Horaz trug er [Seume] stets in der Tasche, oft auch im Koppel und zufällig hatte jemand Stolbergs Gedichte mit dorthin genommen. Die Lehrer meiner Kindheit waren höchst prosaische Seelen. Seume wars, der mich zuerst mit den ästhetischen Schönheiten dieser Autoren bekannt machte und mir das Thor zu dem wie und warum im Worte dieser Geister aufschloß [...] So ward er mein erster Lehrer in diesem Fache, ohne daß er selbst es wußte, und so entstand mein allererstes Gedicht `An meyn teutsches Mädchen`, ohne daß er den Verfasser auch nur ahnte.“22 Münchhausen wird also durch Seumes Einfluss selbst zum Dichter und Schriftsteller.
Auch das folgende Porträt Seumes stammt von ihm: „War er [Seume] gleich ein einsylbiger Gesellschafter, ja, ich möchte fast sagen, ein finster Gemüth, nicht gleich mir, kurz, kühn und rasch, lag gleich eine Decke über seiner Geschichte und auch fast über seinem Betragen – so fühlt` ich doch – er war einer der bessern, er wollte das Gute, und ich hatte eine Seele, an die ich mich anschließen konnte.“ 23
Vor der Rückkehr nach Europa schwören sich zwar beide Freunde, brieflich in Kontakt zu bleiben, Münchhausen aber beklagt sich später, acht Jahre lang nichts mehr von Seume gehört, ja ihn sogar vergeblich gesucht zu haben. Als er endlich erfährt, dass Seume inzwischen als Privatgelehrter in Leipzig lebe, schickt er ihm ein Gedicht, eine „Strafode“ („ An Johann Gottfried Seume. Am 20.des Eismonds 1791“), auf die Seume mit einem Gegengedicht, einem „Lied der Freundschaft“, antwortet ( „Meinem Münchhausen zum Denkmaal“). Im spärlichen Briefwechsel zwischen den beiden schildert Seume kurz seine Zeit beim preußischen Militär (Er fiel auf der Rückreise von Amerika nach mehreren Fluchtversuchen preußischen Werbern in die Hände, die ihn nach Emden – seit 1744 preußisch – brachten, konnte aber erst 1787 nach Leipzig zurückkehren, wo er sein Studium wieder aufnahm und abschloss), ohne allerdings Näheres zu verraten. Sie schicken sich gegenseitig ihre Gedichte zu, die dann 1797 unter dem Titel „Rückerinnerungen von Seume und Münchhausen“ veröffentlicht werden. 24
Am eindrucksvollsten scheint jenes Gedicht zu sein, das Seume bei seinem erneuten Eintritt in militärische Dienste, diesmal in russisch-zaristische (im August 1792 reist Seume nach Pleskow/Russland und wird dort Adjudant und Sekretär des Generals Igelström, Kommandeur der russischen Armee in Polen) Münchhausen widmet: „Abschiedsschreiben an Münchhausen“. Das 34 Strophen umfassende Gedicht beginnt und endet mit:
„Nimm meinen Kuß im Geist an Deinem Rheine
Und denke bei den Bechern deutscher Weine
An einen deutschen Biedermann,
Der an Neuschottlands westlichem Gestade
Im Labyrinthe menschenleerer Pfade
Einst Deine Seele liebgewann.“25
Seume schickt auch dieses Gedicht an Schiller, der es in seiner „Neuen Thalia“, 2. Bd., 1792 abdruckt. Im Begleitschreiben an Schiller heißt es: „Ich versichere Ihnen mit dem ehrlichsten Ernst, daß ich hintger der preußischen Patrontasche an einem Zipfel der Nordsee (in Emden) über Ihren Arbeiten manchmal vergaß, daß ich den fünften Tag nach der Löhnung kein Brod hatte.“26 Schiller also als Vorbild Seumes und auch sein Freund Münchhausen rückt ihn in dessen Nähe, wenn er am ende seines „Rückblick(s) auf verlebte Tage“ schreibt und zwar 12 Jahre nach dessem Tod: „Soviel ist gewiß, ich rede aus überzeugender Erfahrung, lebte er länger, endlich ruhiger, und brauchte er, der Kritik huldigend, die Pfeile mehr, so war er ein zweiter Schiller.“ 27
Münchhausen antwortet auf Seumes „Abschiedsschreiben“ mit dem Gedicht „Nachruf an Seume, am 1. des Eismonds 1793“, in dem er Seumes Entschluss, das Vaterland zu verlassen und erneut die Militärlaufbahn einzuschlagen, tadelt und ihm vorschlägt, in der Heimat ein Amt zu suchen, eine Familie zu gründen und sich der Literatur zu widmen:
„Wohlan! Wenn du die Forscherbahn geendet
Und deinen Sarazenenzug vollendet,
Dann kehre heim ins Vaterland,
Und knüpfe, vor Beginn der grauen Haare,
Zu deinem Glück, an Gottes Weihaltare
Ein süßes ewigliches Band.
Sey mein Nachbar in dem Weserthale
Und trink mit mir aus einer Muschelschale
Und iß mit mir von meinem Brod.“ 28
Seume aber geht auf Münchhausens Vorschläge nicht ein. Eine sesshafte Weseridylle war nicht seine Welt. Weder wird er je heiraten (zwei enttäuschende „Liebesaffären“ schrecken ihn ab) noch ein dauerhaftes Amt bekleiden, weil er sich nicht für ein stationäres Beamtenleben oder eine Hochschullaufbahn geschaffen fühlt. Er bleibt der Wanderer, der Sucher und Einzelgänger, der mehr oder weniger Unbehauste, der neben der körperlichen Anstrengung immer auch die geistige Anregung sucht und braucht.
Die beiden Freunde, deren Beziehung zueinander nicht immer ungetrübt bleibt, sind sich nach ihrer gemeinsamen Amerikazeit nur noch ein einziges Mal persönlich begegnet. Auf seiner Rückkehr von Syrakus, die ihn dann noch nach Paris führte, besucht Seume 1802 Münchhausen in Schmalkalden, der dort inzwischen als Familienvater lebt und zum Kommandeur des hessischen Feldjägercorps aufgerückt ist, eine mehrtägige Begegnung, die eher von gewissen Missstimmungen geprägt ist. 1806 scheint dann ihr Briefwechsel endgültig zum Erliegen gekommen zu sein, die beiden Freunde haben sich wohl allzu sehr voneinander entfremdet: „Münchhausen, ein hartnäckiger Verteidiger der Adelsrechte und Privilegien, Seume, der vorwärts drängende Kämpfer für allgemeine menschliche Freiheit und Gerechtigkeit.“29
spätere Lebensläufe der beiden Freunde
Über Münchhausen heißt es: „Münchhausen war 1806 nach der Besitzergreifung Kassels durch die Franzosen in Kriegsgefangenschaft geraten, weil er nicht gegen Preußen kämpfen wollte. Er entfloh aber und hielt sich in Homberg verborgen. Nach dem Frieden erhielt er Anträge, als Oberst und später sogar als General ins westfälische Heer einzutreten; er begnügte sich aber mit einer Oberförsterstelle in der Nähe von Treysa [...] Seit August 1813 lebte er mit seiner Familie auf einer alten Burg unweit der Weser von der Welt gänzlich abgeschlossen. Erst 1827 fiel ihm durch Erbe ein bedeutendes Besitztum zu. Seine Gattin starb 1828; sie hinterließ ihm drei Söhne und eine Tochter. Münchhausen starb am 16. Dezember 1836 auf seinem Gute Lauenau und ruht in der Familiengruft zu Oldendorf.“30 Sein Gut in Lauenau besteht noch heute. Es ist der alte Familiensitz derer von Münchhausen, das Schoss der Weserrenaissance Schwedesdorf in der Ortsmitte.
Die Erinnerung an K.L.A.H.von Münchhausen ist heute verblasst, seine Dichtungen – er verfasste auch ein Drama, eine Romanze und Dichtungen unter dem Titel „Versuche“ - weitgehend vergessen. Lediglich sein Anteil als Mitherausgeber des „Göttinger Musenalmanachs“ und des „Bardenalmanachs der Deutschen auf 1802“ und eben seine mit Seume gemeinsamen verfassten „Rückerinnerungen“ bleiben erwähnenswert.
Johann Gottfried Seume bzw. sein Werk hingegen ist bis heute präsent geblieben, vor allem natürlich sein „Spaziergang nach Syrakus“, sein Bericht über seine Fußreise (1801/2) von Grimma nach Sizilien, gewissermaßen ein Kontrastprogramm zu Goethes italienischer Reise, denn Seume interessieren vor allem Land und Leute, das alltägliche Leben, die sozialen und politischen Verhältnisse und nicht in erster Linie Kunst und Kultur. Eine zweite vergleichbar große Reise unternimmt er 1805, seine nordische Reise von Leipzig nach Polen, ins Baltikum, Russland, Finnland, Schweden und Dänemark. Der Bericht darüber erscheint 1806 unter dem Titel „Mein Sommer 1805“. Auch hier zeigt sich sein Scharfblick für die Realität und die gesellschaftlichen Bedingungen und seine Verdammung jeglicher Form von Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Seume etabliert sich immer deutlicher als politischer Schriftsteller und macht aus seiner demokratischen Einstellung keinen Hehl. Diese konsequente Haltung verschafft ihm nicht nur Freunde, er gerät in Konflikt mit der Zensur und auch mit sich selbst, z. B. wenn er als Offizier in zaristischen Diensten den Aufstand in Polen unterdrücken hilft.
Seume, ein Zeitgenosse Goethes und Schillers, ist primär nicht durch seine Dichtung, sondern vor allem durch seinen Charakter, seine gradlinige Haltung und seinen Gerechtigkeitssinn, und durch seine zahlreichen Schriften und Aufsätze berühmt geworden. Er hat zwar keinen „bürgerlichen“ Beruf über eine längere Zeit besessen, dafür aber viele Tätigkeiten ausgeübt: Hauslehrer, Dozent, Prinzenerzieher, Sekretär, Diplomatenbegleiter, Korrektor (bei dem Verleger Göschen), Übersetzer. Als er am 13.6.1810 während eines Kuraufenthaltes in Teplitz an einem Nieren- und Blasenleiden stirbt, ist er, der oft auf die Unterstützung von Freunden und Gönnern angewiesen ist, fast völlig verarmt.
Seume ist nicht einfach zu fassen. Er ist zugleich Soldat und Schriftsteller, Patriot und Weltenbummler, Wanderer und Vagabund, Lehrer und Leser, Junggeselle und Nonkonformist, Altphilologe und Militärexperte, Poet und Kritiker, Pamphletist und Aphoristiker, Einzelgänger und Deserteur, Asket und Antikenfreund, Stoiker und Aufklärer, politischer Kopf und Korrektor. Er ist ein Wanderer zwischen den Welten, zwischen Absolutismus und republikanischer Gesinnung, zwischen der Antike und der Moderne, zwischen St. Petersburg und Palermo.
Das Wesertal scheint er nicht mehr wiedergesehen zu haben. Hameln ist für ihn nur als Etappenort erwähnenswert. Auffällig aber bleiben Parallelen zu anderen Hamelner Prominenten. Wie Karl Philipp Moritz zeichnet er sich als der geborene Wanderer, als der Fußgänger par excellence aus, der gehend die Welt erkundet. Aber nicht nur das: Moritz wird selbst Zeuge der Zwangsverschiffung hessischer Rekruten in die Neue Welt (um 1775). Im 3. Teil seines autobiographisch bestimmten Hauptwerkes „Anton Reiser“ berichtet er von seiner Reise nach Bremen und erkundigt sich: „ob nicht etwa einer von den großen Kähnen, die auf der Weser lagen, nach der Mündung schiffen würde, wo noch zu Bremerlehe die hessischen Truppen lagen, die nach Amerika bestimmt waren und damals gerade absegeln sollten.“ 31 Und im 4. Teil desselben Romans schildert Reiser alias Moritz seine Begegnung mit preußischen und kaiserlichen Werbern, denen er – anders als Seume – mit knapper Not entkommen kann. Beide, Moritz wie Seume, stammen aus armen Verhältnissen, beide reisen nach Italien, beide nehmen Verbindungen zu den Weimarer Klassikern auf, beide kämpfen gegen den mainstream und beide sterben relativ jung.
Auch zu einem zweiten Hamelner Literaten weist Seume Parallelen auf: zu Ernst Jünger. Wie Seume als 18jähriger 1781 abrupt und heimlich sein Studium in Leipzig abbricht, um in Frankreich eine Militärlaufbahn einzuschlagen, so verlässt 1913 auch der 18jährige Jünger eigenmächtig das Hamelner Gymnasium, um in Frankreich sein Glück bei der Fremdenlegion zu suchen. Beider Neigungen zu Militär und Waffentechnik einerseits und zu Literatur und jeweilger Gesellschaftskritik andererseits verbinden sie über die Zeiten hinweg.
Hinzufügen bleibt noch, dass Adelbert von Chamisso, der ja 1806 in der Hamelner Garnison seinen (preußischen) Dienst tut, bevor er nach der Übergabe der Festung zu Fuß von Hameln aus nach Frankreich zieht, in verwandtschaftlicher Beziehung zu dem Münchhausen-Geschlecht steht.
Das Seumesche Lebensmotto „perfer et obdura“ (trage und harre aus!) möge uns Vorbild sein wie auch seine Forderung „Der Wahrheit folgen und sie pflegen, die Gerechtigkeit schützen, für alle in gleicher Weise das Gute wollen und tun, nichts fürchten“, die er leitmotivisch seiner Autobiographie vorangestellt hat. Wer sich mit Seume näher beschäftigen will, sei auf die mustergültige Ausgabe seiner Werke im Deutschen Klassikerverlag (Herausgeber ist der vor kurzem verstorbene Bielefelder Literaturwissenschaftler Jörg Drews) und die Biographie von Eberhard Zänker verwiesen. Eine romanhafte Verlebendigung seines Lebens verfasste bereits 1953 Kurt Arnold Findeisen („Eisvogel“), während Friedrich Christian Delius in seiner Erzählung „Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus“ (1995) auf den Spuren Seumes wandert bzw. wandern lässt.32