Vortrag von Dr. Ulrike Santozki (Schiller-Gymnasium Hameln) am 15. 08. 2010
bei der Bibliotheksgesellschaft Hameln, e. V.
Homer: Rätsel, Faszination und Basis der europäischen Literatur
„Homer. Hat nie existiert.“ So schreibt Gustave Flaubert 1850 in seinem Wörterbuch der Gemeinplätze. Dann sind Sie also heute zu einem Vortrag gekommen über jemanden, den es überhaupt nicht gibt. Doch seien Sie beruhigt: Ganz so einfach ist es nicht. Wenn auch die Person Homer als möglicher Verfasser von vielen Rätseln umrankt ist, so sind uns auf jeden Fall aus der Antike zwei Epen mit dem Namen Ilias und Odyssee überliefert, von denen wir mit guten Gründen annehmen können, dass sie die ersten Werke sind, die unter Verwendung der Schrift geschaffen wurden. Vor ihnen wurde Dichtung rein mündlich überliefert. Zwar gab es im 2. Jahrtausend v. Chr. bereits eine Schrift, aber zum Zwecke der Aufzeichnung von Dichtung bediente man sich ihrer nicht. Außerdem brach zwischen 1200 und 1100 v. Chr. diese erste Schriftlichkeitsphase mit dem Zusammenbruch der damals hochentwickelten Verwaltungssysteme ab. Die uns bekannte griechische Schrift, auf der auch unser Alphabet basiert und in der uns Homers Epen überliefert sind, haben die Griechen im Rahmen des Handelsverkehrs in der ersten Hälfte des 8. Jh. v. Chr. von den Phöniziern übernommen. Wir haben also davon auszugehen, dass Homers Epen die ersten Dichtungen in griechischer Sprache waren, die niedergeschrieben wurden. Was fällt uns zuerst ein, wenn wir an sie denken? „Endlose Heldenkämpfe mit Schwert, Schild und Lanze zwischen Griechen und Trojanern in einem Krieg um Troja, der zehn Jahre dauerte: die Ilias. Eine lange Kette märchenhafter Abenteuer des Trojakämpfers Odysseus auf seiner Heimfahrt übers Meer zur Insel Ithaka, wo seine treue Frau Penelope seit zwanzig Jahren auf ihn wartet: die Odyssee.“ Dem Einen oder Anderen werden auch Erinnerungsfragmente und Sprüche einfallen, wie z. B. das Trojanische Pferd, die schöne Helena, Kassandrarufe, die Achillesferse, zwischen Skylla und Charybdis wählen müssen, sich nicht becircen lassen usw.
Homer ist im Moment unheimlich populär. Ich erinnere nur an den monumentalen Troja-Film von Wolfgang Petersen oder die neueste Übersetzung von Raoul Schrott sowie die – wissenschaftlich nicht haltbaren – Spekulationen eben desselben Autors darüber, dass Homer eigentlich ein Eunuch, ein fleißiger Schreiber in assyrischen Diensten gewesen sei, nicht aber der große Dichter, wie wir ihn uns seit langem vorstellen und dass der trojanische Krieg doch ganz woanders stattgefunden habe. Trotz dieser Popularität begegnet man einer Reihe von Hürden, die die Lektüre Homers, im griechischen Original sowieso, aber auch in einer konventionellen Übersetzung, erschweren: Die Epen sind in einer sehr gehobenen poetischen Sprache geschrieben. Viele Verse sind formelhaft, ja wiederholen sich gar. Das Geschehen wird in einer unheimlichen epischen Breite erzählt, oft wird etwas geradezu wörtlich an späterer Stelle wiederholt. Ferner gibt es neben der Handlungsebene der Menschen diejenige der Götter und auch die vielen detaillierten und langen Schlachtszenen in der Ilias sind vielleicht nicht jedermanns Sache.
Ich möchte Ihnen getreu dem Titel in meinem Vortrag dreierlei zeigen. Ich möchte zeigen, worin trotz der Rätselhaftigkeit vor allem der Person Homers eine Begegnung mit dem Original faszinieren kann, und zweitens (an einigen Beispielen), worin über Jahrhunderte hin die ungebrochene Faszination bestand, die Homer ausgeübt hat und weshalb er daher mit einigem Recht als Basis der europäischen Literatur bezeichnet werden kann. Beides kann am Ende dazu führen, dass Sie sowohl selbst Homer noch einmal lesen wollen als auch andere große Werke der Literatur, wie z. B. Vergil, Dante oder Goethe mit anderen Augen sehen. Beginnen wir also mit einem Rätsel.
1 Die Person Homers
Zuhörer, die regelmäßig die Vorträge der Bibliotheksgesellschaft besuchen, wissen, dass viele Referenten ihre Vorträge mit einem kleinen Überblick über das Leben des Autors beginnen. Dies kann ich hier nicht oder zumindest nicht in gleicher Weise tun. Denn im Grunde wissen wir gar nichts Sicheres über Homer als Person. Allein schon sieben oder sogar noch mehr Städte stritten sich darum, Homer Sohn ihrer Stadt nennen zu können: Chios, Smyrna, Kolophon, Salamis, Rhodos, Argos und Athen. Was wir über Homers Leben und Persönlichkeit zu wissen meinen oder meinten, ist erfunden oder basiert auf Übertragungen von Äußerungen aus der Ilias und Odyssee über Dichter auf den vermeintlichen Dichter selbst. Die abenteuerlichste Erfindung hat unlängst Raoul Schrott mit seiner These hervorgebracht, Homer sei ein griechischer Schreiber in Kilikien, das heute im Südosten der Türkei liegt, gewesen. Es gibt weder Briefe von Homer, wie z. B. im Falle Kafkas, oder gar eine eigene Biographie, wie Goethes Dichtung und Wahrheit, oder Äußerungen von Zeitgenossen über Homer.
Für die Griechen gab es keinerlei Zweifel, dass eine Person mit dem Namen Homer existiert habe. Für sie war er schlicht der größte der Poeten, ein Mensch aus Fleisch und Blut, der in fernen Zeiten nicht nur die Ilias und die Odyssee, sondern auch andere Werke geschrieben hat, die heute entweder verloren und/oder strittig sind. Selbst wenn Herodot bereits im 5. Jahrhundert vor Chr. Zweifel an der Echtheit einiger dieser weiteren Werke äußerte, stand doch die Existenz Homers außer Frage. Im 3. und 2. Jahrhundert v. Chr. erschienen dann sogar unechte Biographien, die namhaften Autoren wie z. B. Herodot zugeschrieben wurden, jedoch erfunden waren. Interessant ist, dass einige der Eigenschaften, die Homer gewöhnlich zugeschrieben werden, solche seiner eigenen Figuren sind. Homer soll blind gewesen sein. Demodokos, der Sänger am Hof der Phäaken in der Odyssee, ist ebenfalls blind und im in der Antike für homerisch gehaltenen Hymnos an den delphischen Apoll ist die Rede von einem „blinde[n] Mann, er wohnt im staubigen Chios, / All seinen Liedern gebührt der Hochruhm künftiger Zeiten“ . Betrachtet man all diese Schwierigkeiten, ist es durchaus möglich, „dass Homer nicht als ein Mensch geboren wurde, sondern als ein Symbol, als der Name, mit dem die antiken Sänger ihre eigene Kunst belegten, indem sie eine zeitlose Tätigkeit in eine legendäre Ur-Person, in einem berühmten gemeinsamen Ahnen aller Dichter verwandelten, den ersten und besten.“ Dass derartiges oft passiert, wenn Dichtung mündlich tradiert wird, belegen Forschungen zu neueren Sängertraditionen auf dem Balkan Anfang des 20. Jahrhunderts.
2 Das Werk
Obwohl auch ich hier von Homer als Basis der europäischen Literatur rede, steht Homer nicht am Anfang, sondern am Ende einer Tradition. Homers Epen sind zwar die ersten schriftlich überlieferten Werke. Gerade dieser Umstand der Schriftlichkeit spricht aber dafür, dass es sich um ein Stadium der „Vollendung, der bewussten Aufarbeitung vorhandenen und bereits vielfach und vielfältig poetisch geformten Materials“ in einer Zeit handelt, von der man nicht erst seit Raoul Schrott weiß, dass sie auch durch nicht-griechische orientalische Einflüsse geprägt ist. Denn es gehört ja weit mehr literarischer Sachverstand dazu, etwas dauerhaft schriftlich zu komponieren und zu verfassen als etwas mündlich vorzutragen. Aber auch historisch lässt sich die von Homer dargestellte Welt als „literarisches Teilglied der letzten vollen Blüte einer jahrhundertealten Adelskultur“ bezeichnen. Homers Epen entstanden im 8. Jahrhundert v. Chr., einer Art griechischer Renaissance , der Trojanische Krieg fand wesentlich früher, um 1250 v. Chr., statt. In der Zeit Homers erinnerte man sich aber gerne an die Wertewelt der alten Adelsschicht und an deren Paläste zurück. Denn die mykenische Palastkultur, die die Zeit ist, in der Homers Epen spielen, war um 1200 untergegangen und dann folgten die sogenannten „dunklen Jahrhunderte“ (ca. 1200-800 v. Chr.), eine Zeit des Niedergangs, in der auch die Schrift wiederum verschwand. Trotz dieser Zeitgebundenheit beruht die Wirkung der Ilias und Odyssee auf zeitunabhängigen Qualitäten. Die Ilias umfasst 16000, die Odyssee 12000 Verse. Beide Titel stammen nicht von Homer. Die Titel kann man vielmehr den Anfangsversen beider Werke entnehmen, denen wir uns nun zuwenden wollen.
2.1 Die Ilias
2.1.1 Der Zorn des Achill als Thema der Ilias
Die Ilias beginnt mit den Worten „Singe, Göttin, den Zorn des Peleiaden Achilleus“ (Ilias I 1). Im griechischen Original steht der Zorn sogar ganz am Anfang der Zeile. Diese erste Zeile besitzt, wie schon gesagt, gewissermaßen Titelfunktion. Thema ist ausdrücklich der Zorn des Achill. Interessant ist dabei, dass dasjenige, was man gewöhnlich zuerst mit Homer verbindet, nicht im Zentrum steht: die Entführung Helenas, die Musterung und Fahrt der griechischen Flotte, die ersten Kampfhandlungen, das Trojanische Pferd, die Plünderung oder Brandschatzung Trojas . Ausführlich dargestellt findet man derartiges im sogenannten „Epischen Zyklus“, einer Abfolge von Texten, die den Trojanischen Krieg chronologisch behandeln. Dennoch heißt die Ilias nicht zu Unrecht so. Denn Homer hat in die für ihn eigentlich interessante Handlung, den Zorn des Achill, durch Rückblenden und Erzählungen die ganze Geschichte des trojanischen Krieges eingearbeitet. Eigentliches Thema der Ilias ist aber kein äußeres Geschehen, sondern „ein Vorgang, der sich im Innern eines einzelnen abspielt“ : der Zorn, der jedoch auf eine ganz besondere Weise mit dem Kriegsgeschehen verbunden ist. Denn er ist „nicht irgendein aufregendes Geschehen vor Troja, sondern diejenige Handlung, durch die der Fall Trojas überhaupt erst möglich wird und schließlich auch zustande kommt.“ Erzählt wird daher nur ein ganz kleiner Ausschnitt des insgesamt zehn Jahre dauernden Kriegs um Troja, nämlich 51 Tage im neunten Kriegsjahr, wobei die tatsächliche Handlungszeit nur fünf oder sechs Tage beträgt, von denen auch nur vier ausführlich geschildert werden. Die Ilias beginnt mit der Entstehung des Zorns des Achill und endet in dem Augenblick, als dieser Zorn endgültig beigelegt ist. Mit dem griechischen Wort μῆνις ist mehr als bloße Wut gemeint, es bezeichnet einen „anhaltende[n] Zorn, der durch ein Verlangen nach berechtigter Rache gerechtfertigt ist“ . Doch wie kommt es zu diesem Zorn?
Im neunten Kriegsjahr wütet eine verheerende Seuche im Lager der Griechen, an der viele Krieger sterben. Der Leser erfährt sofort, worin der Grund liegt: ein Religionsfrevel. Agamemnon, der Oberbefehlshaber der Griechen, hatte sich nämlich geweigert, dem Apollonpriester dessen Tochter Chryseis, die er nach einem Beutefeldzug als Ehrengeschenk bekommen hatte, zurückzugeben. Der Priester hatte sich daraufhin an Apoll um Hilfe gewandt, woraufhin dieser die Seuche veranlasst hatte. In dieser Situation nun ist es Achill, der Anführer der Myrmidonen, und nicht Agamemnon, der Oberbefehlshaber, der selbstbewusst die Initiative ergreift. Auf eigene Faust versammelt er die Soldaten und macht ihnen klar, dass es nur zwei Alternativen gibt: entweder einen Seher nach dem Grund zu befragen und die Seuche zu besiegen oder die Heimfahrt. Nachdem der Seher Teiresias die Rückgabe der Chryseis als alleiniges Heilmittel verkündigt hat, verlangt Agamemnon ein Ersatzgeschenk. Dies ist der Punkt, an dem der Zorn des Achill seinen Anfang nimmt. Achill beschimpft Agamemnon zunächst als habgierig und fordert ihn auf, die Forderung nach Ersatz zunächst zurückzustellen. Sie würden ihm später schon noch genug geben können. Agamemnon sieht sich in seiner Autorität als Oberbefehlshaber angegriffen und tritt extrem autoritär auf, indem er Achill androht, ihm sein Ehrengeschenk, Briseis, wegzunehmen. Das Ganze wird immer persönlicher. Achill, der Briseis sehr liebt und durch die Drohung betroffen ist, überhäuft Agamemnon mit Schimpfwörtern und stellt „die grundlegende Voraussetzung des Militärdienstes in Frage: dass nämlich der einzelne Soldat seine Freiheit, sein Schicksal, ja sein Leben einer Sache unterordnet, die ihn persönlich vielleicht gar nicht betrifft“ : Ihm hätten die Trojaner ja gar nichts getan, er sei nur Agamemnon, dem Unverschämten, zu Gefallen nach Troja gefahren, um Menelaos, Helenas Ehemann zu rächen (vgl. Ilias I 158-160). Nun eskaliert die Situation derart, dass ihre Folgen immens für das weitere Kriegsgeschehen werden. Achill droht zunächst mit der Heimkehr. Als Agamemnon daraufhin seine Drohung, ihm Briseis wegzunehmen, wahrmacht, kann Achill nur durch das Eingreifen der Göttin Athene davon abgehalten werden, mit dem Schwert auf Agamemnon zuzugehen und entschließt sich zu einem anderen, langfristig jedoch wesentlich wirkungsvollerem Verhalten: Agamemnon soll erkennen, dass er durch Verblendung den besten Griechen so missachtet hat, und zieht sich vom Kampf zurück. Dass Agamemnon tatsächlich verblendet ist und sich maßlos überschätzt, wenn er glaubt, ohne Achill auskommen zu können, wird dem Leser schnell deutlich. Denn er glaubt tatsächlich, ihm könne überhaupt nichts passieren, Zeus sei uneingeschränkt auf seiner Seite (vgl. Ilias I 175). Damit Agamemnon so richtig merkt, dass er auf Achill angewiesen ist, bringt Achill seine göttliche Mutter Thetis dazu, die Trojaner zunächst siegen zu lassen. Doch damit wir verstehen, wie das möglich ist, müssen wir zunächst einmal sehen, wer Achill überhaupt ist.
2.1.2 Die Achill-Figur I
Achill ist die Frucht einer arrangierten Verbindung zwischen der Meeresnymphe Thetis und dem Sterblichen Peleus. Die Göttin wurde nämlich von den mächtigsten Göttern umworben, Zeus und Poseidon. Da ihr aber vom Schicksal bestimmt war, einen Sohn zu gebären, der stärker sei als sein Vater, zogen sich die Götter zurück und arrangierten die Heirat mit Peleus. Doch diese Stärke ist Achill nur um den Preis eines frühen Todes zugedacht. Da er um sein Lebensschicksal weiß, muss ihm Ehre mehr bedeuten als anderen Menschen. Sie soll ihm das versagte Glück eines langen Lebens ersetzen (vgl. Ilias I 352). Die Art, wie er diese Ehre verfolgt, wird ihm jedoch zum Verderben. Ferner weiß Achill nichts von dem, was z. B. Hektor, den Anführer der Trojaner, an seine Familie bindet: Er hat keine Frau, seinen Vater hat er lange nicht gesehen und seine Mutter ist eine Göttin: Sie kann ihm helfen, aber er nicht ihr. Seine ganzen Gedanken sind auf den Kampf konzentriert. Hektor hingegen ist voll von Gedanken für seine Frau Andromache, seinen Sohn Astyanax und seine Eltern Priamos und Hekabe. Achills Bezugspersonen hingegen sind Phoinix, sein alter Erzieher, und Patroklos, sein Freund und Kampfgefährte. Hektor kämpft aus Zwang für seine Familie, seine kämpferische Tapferkeit ist nur ein Teil von ihm, bei Achill macht sie den ganzen Mann aus. Sein Kampfgefährte ist ihm wichtiger als sein Vater Peleus und sein Sohn Neoptolemos (vgl. Ilias XIX 321-327). Dass ein derart einsamer Außenseiter auf Anerkennung und Ehre setzt, ist verständlich. Die Art jedoch, wie er dies tut, wird ihm zum Verhängnis. Sie sehen schon, dass nicht nur Agamemnon, sondern auch Achill verblendet ist. Dass man Verständnis für Achill aufbringen kann, liegt aber auch daran, dass es ihm nicht nur um Ehre geht. Denn er zeigt neben seinem Zorn eine bedingungslose Bereitschaft, für das Recht einzustehen und es anzuerkennen, ein aufopferungsvolles Eintreten für das Wohl der Gemeinschaft und man kann auch im Affekt an seinen rechtlichen Sinn appellieren (Athene, Priamos). Achill ist nämlich ein Charakter von großer Individualität, der geradezu widersprüchliche Züge in sich vereint: „Er ist zu heftigem Zorn und anhaltendem Groll fähig, aber auch mitleidig, weich, hilfsbereit, ja er hat […] sogar eine gewisse Tendenz zu wehleidigem Jammern in sich […], gleichzeitig ist er tapfer, ausdauernd, hat Zivilcourage und einen großen Gerechtigkeits- und Gemeinschaftssinn.“ Odysseus und Nestor sagen im 9. Buch, dass er sein trotziges Verhalten später bereuen wird, sie wissen, dass er eigentlich nicht die Folgen, die entstehen, will. Doch soweit sind wir noch nicht. Zurück zu Thetis und Zeus.
2.1.3 Die Gesandtschaft
Achills Plan funktioniert im Folgenden. Thetis hat noch einiges gut bei Zeus und bringt ihn dazu, die Trojaner zunächst siegen zu lassen. Als die Situation für die Griechen immer aussichtsloser wird, schlägt der weise alte Nestor im 9. Gesang vor, eine Gesandtschaft zu Achill mit Briseis und weiteren Geschenken zu schicken, um ihn doch wieder zum Eingreifen zu bewegen. Agamemnon lässt sich darauf ein, bereut sogar sein Fehlverhalten. Die aus Odysseus, Ajax und Phoinix bestehende Gesandtschaft trifft Achill an, als dieser gerade die Leier zum Vergnügen spielt. Mit allem rhetorischen Geschick führen sie ihm die verheerenden Folgen vor Augen, den Untergang der Achäer, den er nicht wirklich wollen kann. Doch trotz Briseis und der Geschenke bleibt Achill ungerührt und lehnt alles ab. Ist er immer noch der Meinung, Agamemnon habe seine Verblendung noch nicht erkannt? Merkwürdigerweise bringt er auf einmal ein ganz anderes Argument ins Spiel. Doch hören sie selbst:
„Nichts vergleich’ ich an Wert dem Leben: […]
Meine göttliche Mutter, die silberfüßige Thetis,
Sagt, mich führe zum Tod ein zwiefach strebendes Schicksal:
Wenn ich hier noch bliebe und weiterkämpfte um Troja,
Hin sei die Heimkehr dann, doch blühe mir ewiger Nachruhm.
Aber kehr’ ich zurück zum teuren Lande der Väter,
Dann verwelke mein herrlicher Ruhm, doch lang sei des Lebens
Dauer, und nicht so bald ereile das Los mich des Todes.“ (Ilias IX 401-416)
Achill sagt hier nicht einfach: „Ich zürne weiter, weil Agamemnon seine Verblendung noch nicht erkannt hat.“ Achill wird unsachlich, gibt keinerlei Kriterien dafür an, wann Agamemnon für ihn denn seine Verblendung erkannt hat. Vielmehr argumentiert er nun mit etwas, das mit dem anfänglichen Problem, der Auseinandersetzung mit Agamemnon und dessen Verblendung, gar nicht wirklich etwas zu tun hat, sondern vielmehr sehr persönlich und von Agamemnon überhaupt nicht zu beeinflussen ist. Für Achill ist Leben kostbarer als Ruhm. Die Gelegenheit, dieses an sich erst mal nicht unmittelbar mit dem Streit zwischen ihm und Agamemnon verknüpfte Argument anzubringen, ist günstig, wenn man sich denn schon einmal vom Kampf zurückgezogen hat, allerdings auch unfair. Möglicherweise hat sich Achill in der Zwischenzeit derart in seine verletzte Ehre hineingesteigert, dass ihm der Grund für sein Bedürfnis, sein kurzes Leben, immer bewusster geworden ist und er nicht mehr den freien Blick auf die wahren Gründe für seinen Zorn hat. Auf jeden Fall stellt eine derartige Einstellung den heldenhaften Krieg, den Epen traditionell feiern, in Frage. Um genauer zu verstehen, warum Achill sein Leben so wichtig ist, müssen wir uns noch einmal der Achill-Figur zuwenden.
2.1.4 Die Achill-Figur II
Achill erhält neben den vielen positiven Beinamen durch seine Kameraden wie „strahlend“, „den Göttern gleich“ und „fußschnell“ von seiner Mutter das Attribut „kurzdauernd“, „kurzlebig“. Als Ersatz dafür erbittet sie von Zeus Ehre für ihren Sohn, doch über sein Leben kann sie nicht verhandeln. Thetis hat verschiedenen Überlieferungen zufolge verzweifelt versucht, Achill unsterblich zu machen: entweder durch Eintauchen in kochendes Wasser oder in den Fluss Styx. Die berühmte „Achillesferse“ rührt daher, dass sie ihn an der Ferse festhielt, so dass diese Stelle als einzige nicht unsterblich wurde. Thetis’ Wehklagen um die Kurzlebigkeit Achills ist eines der durchgängigsten Motive der Ilias. Achill ist also nicht nur ein kurzes Leben bestimmt, sondern er ist von geradezu sprichwörtlicher Verwundbarkeit. Er stirbt als Einziger der Haupthelden in der Ilias, bevor Troja eingenommen wird; ein weiterer Hinweis darauf, dass er in der übergeordneten Belagerungs- und Eroberungsgeschichte keine wesentliche Rolle spielt und diese also auch nicht das Hauptthema der Ilias darstellt. Erst als Aiax ihn unverblümt als hart und egoistisch beschimpft, lässt sich Achill zu einem Kompromiss bewegen, der zum traditionellen Motiv, seinem Zorn auf Agamemnon zurückkehrt: Er werde erst dann wieder in die Kämpfe eingreifen, wenn die Trojaner bis zu den Schiffen und Hütten der Myrmidonen gelangt seien. Die Gesandtschaft jedoch nimmt diese Entscheidung kaum zur Kenntnis und meldet bei der Rückkehr ins Lager nur, Achill habe seine Heimkehr angekündigt. Damit ist für das Weitere der Beginn von Achills Tragödie markiert.
2.1.5 Patroklos
Es ist genau diese Tatsache, dass weder die Gesandtschaft noch Achills Freund Patroklos wirklich zur Kenntnis genommen haben, dass Achill wieder eingreifen will, wenn die Trojaner bei den Schiffen sind, die in die Katastrophe führt. Denn als es soweit ist, kommt Patroklos nicht etwa darauf zurück und treibt Achill zum Kämpfen an, wie es ihm sogar Nestor aufträgt, sondern er bittet sofort Achill, selbst in dessen Rüstung kämpfen zu dürfen in der Hoffnung, dass ihn die Trojaner für Achill halten werden und dadurch das Schlimmste zu verhindern. Ja es ist nun sogar Achill, der Patroklos Ratschläge gibt und ihn ermahnt, sofort umzukehren, wenn er die Trojaner von den Schiffen vertrieben habe und auf keinen Fall dann übermütig weiterzukämpfen. Patroklos, von zahlreichen Erfolgen gestärkt – er tötet immerhin 54 Trojaner – , hält sich natürlich nicht daran und wird im 16. Gesang von Hektor getötet. Nach Patroklos’ Tod greift Achill wieder in den Kampf ein, jedoch allein aus persönlichen Motiven: aus Trauer um Patroklos und um dessen Tod an Hektor zu rächen. Die negativen Folgen seines Handelns mussten ihm erst so konkret und persönlich vor Augen gestellt werden, bis er begreifen konnte, was er mit seinem Rückzug angerichtet hat. Er bleibt immer noch auf sich selbst bzw. Patroklos fixiert und hat noch keinen Blick für andere schlimme Folgen für andere Personen. Also ist auch jetzt sein Zorn noch nicht „besänftigt – er wird vielmehr durch die Schuld des Überlebenden ausgelöscht.“ Von nun an ist Achill völlig verändert. Obwohl er, wie schon gesehen, nicht nur sicher weiß, früh sterben zu müssen, sondern ganz genau, dass er direkt nach Hektor stirbt (vgl. Ilias XVIII 96), ist es nun die Trauer um Patroklos, die sein Denken völlig einnimmt und ihn blind für alles Andere sein lässt. Bevor es zu der Konfrontation zwischen den Haupthelden beider Seiten, Hektor und Achill, kommt, stürmt Achill wie ein heftig brennendes Feuer über die trojanische Ebene und vernichtet alles Trojanische, das ihm in den Weg kommt. Sein Wagen ist bis zu den Achsen mit Blut bespritzt, sein unsterbliches Pferdegespann zertrampelt die Leichen (vgl. Ilias XX 490-503). Er treibt die von panischem Schrecken erfüllten Trojaner in den Fluss Skamandros und springt sogar selbst hinein, um zwölf jungen Trojanern den Kopf abzuschlagen (vgl. Ilias XXI 26-32). Sogar der Fluss, dessen Lauf von Leichen gestaut wird, empört sich und erhebt sich mit einer heftigen Woge gegen Achill und verfolgt ihn. Aus dem früher galanten und ritterlichen Mann, der auch mal einen Trojaner verschont hat, ist ein anderer Mensch geworden: ein mörderischer Mann im Blutrausch. Dass Achill nicht grundsätzlich so ist, sondern sich sehr wohl auch in andere Menschen hineinversetzen und Mitleid zeigen kann, beweist er noch einmal am Ende, nachdem er Hektor getötet und um die Stadt geschleift hat. Er geht auf die Bitten von dessen Vater Priamos’, ihm den Leichnam herauszugeben, ein, behandelt Priamos wie seinen eigenen Vater, lässt den Leichnam Hektors waschen, beweint ihn mit Priamos zusammen und schützt den feindlichen König sogar vor möglichen Angriffen durch die Griechen. Dass Achill grundsätzlich diese menschlichen und versöhnlichen Züge trägt, weiß auch die Götterbotin Iris, die zu Priamos in sicherem Wissen um den Charakter Achills sagt, Achill werde ihn
„gewiß nicht morden und allen es wehren;
Ist er doch bei Verstand, nicht kopflos oder ein Frevler,
Sondern er wird den flehenden Mann in Gnaden verschonen.“ (Ilias XXIV 185-187)
Es war schon mehrmals von Verblendung die Rede. Im Grunde kommen in der Ilias vier Personen vor, die verblendet sind und so den spezifischen Gang der Dinge ermöglichen. Agamemnon ist verblendet, weil das unbedingte Bedürfnis, von den Anderen respektiert zu werden, ihm den Blick für unerwünschte Folgen trübt, wenn er dieses Bedürfnis über alles stellt. Bei Achill ist es das Bedürfnis nach Ehre und nach einem erfüllten, wenn auch kurzen Leben, bei Hektor ist es das Bedürfnis nach Sieg, das ihn alle Warnungen missachten lässt und es am Ende Achill ermöglicht, ihn zu töten. Bei Patroklos ist es das Bedürfnis zu helfen, wobei er dabei die eigenen Grenzen übersieht. Bei allen Dreien handelt es sich nicht um grundsätzlich schlechte Menschen, sondern um für die Wertewelt des Krieges herausragende Persönlichkeiten mit großen Stärken. Aus Gründen, die an sich verständlich sind, stürzen sie sich selbst und Andere in derart großes Unglück, das sie eigentlich nicht verdient haben. Der Grund liegt nach Homer darin, dass sie beim Verfolgen ihrer Ziele nicht nach vorne und zurück schauen (vgl. z. B. Ilias I 343 und XVIII 255).
2.2 Die Odyssee
Wenn wir an Odysseus denken, denken wir vermutlich zuerst an die List mit dem Trojanischen Pferd, eine Episode, die, wie bereits erwähnt, in Homers Epen nur am Rande von Bedeutung ist. Odysseus ist bei Homer einer der komplexesten Charaktere. In der Ilias erscheint er als umsichtiger, vernünftiger Redner und als kluger Diplomat, der Agamemnons Versöhnungsangebot an Achill annimmt und Mitglied der Gesandtschaft zu Achill ist. Er ist ein Meister der Rhetorik, der weiß, wie man sich dumm stellt, um sein Publikum besser zu überraschen. Der greise Antenor berichtet in der Ilias Helena über eine frühere griechische Gesandtschaft, die den Raub friedlich regeln wollte, mit folgenden Worten:
„Denn schon einmal kam er hierher, der edle Odysseus,
Deinetwegen gesandt, mit ihm der Held Menelaos, […]
Als sie nun in den Kreis der versammelten Troer getreten,
Ragte im Stehen Menelaos hervor mit mächtigen Schultern,
Doch im Sitzen erschien mir würdevoller Odysseus.
Siehe, da sprach Menelaos nur kurz, in fliegenden Worten,
Wenig nur, doch deutlich und hell; denn er war nicht geschwätzig;
Niemals irrt’ er im Wort, obwohl er jünger an Jahren.
Aber sobald sich der listenreiche Odysseus erhoben,
Stand er und schaute zur Erde hinab mit gehefteten Augen;
Weder rückwärts schwang er den Stab, noch hob er ihn vorwärts,
Sondern er hielt ihn steif in der Hand und glich einem Toren,
Daß du leicht für tückisch ihn achtetest oder für sinnlos.
Aber sobald seiner Brust die Stimme gewaltig entströmte
Und die Worte so dicht wie Schneegestöber des Winters
Dann wohl hätte kein Mensch es gleichgetan dem Odysseus;
Nicht so befremdlich war uns jetzt des Odysseus Erscheinung.“ (Ilias III 204-223)
Auch in der Odyssee ist er ein listiger Held, aber nie voll bösartiger Hinterlist: Obwohl er den Kyklopen verhöhnt, ist sein Verhalten gerechtfertigt durch das abscheuliche Verhalten der bedrohlichen Kreatur. Und auch wenn er unterwegs zum Liebhaber Kirkes und Kalypsos wird, ist seine wahre Liebe dennoch seine Frau Penelope, nach der er sich während der Zeit bei Kalypso sehnt und zu der er am Ende auch aufbricht. Die negativen Assoziationen wie Gewalttätigkeit und Herzlosigkeit, mit denen Odysseus in die europäische Literatur eingegangen ist, deuten sich erst bei Euripides an und setzen sich dann vor allem in Rom bei Vergil durch. Dante folgt dieser Version, wenn er Odysseus im achten Kreis der Hölle ansiedelt, dem Ort der Ratgeber des Betrugs, der Diebe, die andere zum Stehlen verleiten und sich selbst winden.
Was ist nun das Thema der Odyssee? Ist es eine Geschichte über die Liebe oder über den Sinn des Lebens? Beides und sicher noch mehr ist vorgeschlagen worden. Betrachtet man jedoch die Anfangszeilen, so ergibt sich ein anderes Bild. Die Odyssee beginnt mit den Worten:
„Muse! Erzähl mir vom wendigen Mann, der die heilige Feste
Trojas zerstörte! Er sah dann auf mannigfaltiger Irrfahrt
Vieler Menschen Städte; er lenkte ihr Sinnen und Trachten,
Duldete viel und tief im Gemüte die Leiden des Meeres,
Rang um die eigene Seele, um Heimkehr seiner Gefährten.
Aber dem allen zum Trotz: Sein Bemühen riß die Gefährten
Doch nicht heraus; denn die Toren verdarben am eigenen Frevel […]
Greif in die Fülle,
Göttin, Tochter des Zeus, auch uns davon zu erzählen!“ (Odyssee I 1-10)
Auch wenn das in der Übersetzung nicht deutlich wird: Das erste Wort der Odyssee ist ἄνδρα den Mann. Thema ist nicht wie in der Ilias ein innerer Vorgang, sondern eine Person. Doch wie wird diese Person dem Leser nähergebracht? Zunächst erfahren wir, dass er mit ganz bestimmten Eigenschaften ausgestattet ist: πολύτροπος (wendig, vielgewandt), ἀρνύμενος (ringend um etwas, etwas zu gewinnen suchend: die Heimkehr) und ἱέμενος (eifrig strebend). Im Folgenden lernen wir ihn kennen, indem wir von seiner Art, heimzukehren, erfahren. Dieses Verfahren ähnelt denen im Anschluss an die Ilias entstandenen weiteren Epen und Dichtungen, die vom Schicksal achäischer Veteranen erzählten und den Abschluss des Epischen Zyklus bildeten. Diomedes z. B. kehrt spät zu einer untreuen Ehefrau zurück. Agamemnon wird von seiner Ehefrau am Tag seiner Rückkehr ermordet, Menelaos und Helena leben glücklich bis an ihr Ende in Sparta. Der alte Nestor kehrt nach Pylos zurück. Achill ist bereits tot. Doch die Odyssee ist nicht bloß eine Heimkehrergeschichte. Die Erzählung über die Heimkehr dient dazu, uns den Mann Odysseus näherzubringen, aber nicht ihn allein, sondern in einer ganz geschickten Kontrastierung zu Agamemnon und Achill. Agamemnon und Achill spielen in der Ilias eine große Rolle, Odysseus kommt eher am Rande vor. Es werden also einerseits zwei Männer, die heimgekehrt sind, einander kontrastiert (Odysseus – Agamemnon), andererseits werden sie beide Achill kontrastiert.
Die Muse soll irgendwo anfangen. „Irgendwo“ meint: an einer Stelle, die geeignet ist, uns den Mann Odysseus in seinen spezifischen Eigenschaften im Kontrast zu Agamemnon und Achill näherzubringen. Die Irrfahrt des Odysseus hat zehn Jahre gedauert. Die eigentliche Handlung in der Odyssee umfasst aber nur die Abfahrt von Kalypso, der vorletzten Station, die Ankunft und den dreitätigen Aufenthalt bei den Phäaken und die vier Tage in Ithaka. Auf kunstvolle Weise ist allerdings in der Odyssee auch die gesamte Heimkehr des Odysseus enthalten. Denn am Hof der Phäaken erzählt Odysseus – getreu seiner Eigenschaft als guter Rhetor und Erzähler – die Vorgeschichte. Der Nostos wird also nicht an sich, sondern als Mittel zur Herausstellung eines besonderen Merkmals des Odysseus erzählt.
Die Odyssee bietet eine Fülle an Geschichten. Die vielen Abenteuer des Odysseus sind für Leser sicher viel erträglicher als die langen Schlachtszenen in der Ilias. Herausheben möchte ich hier jedoch einen Aspekt, den ich für ein zentrales Anliegen der Odyssee halte: die Kontrastierung des Odysseus zu Agamemnon und Achill. Interessant ist bereits, dass dieser Gedanke auch an zentralen und wichtigen Stellen besonders präsent ist, nämlich am Anfang im ersten Gesang, in der Mitte im 11. Gesang und am Ende im 24. Gesang.
Gleich zu Beginn im ersten Gesang wird das Besondere an Odysseus im Unterschied zu anderen Überlebenden des Trojanischen Krieges herausgestellt:
„Alle die andern, soviel sie der jähen Vernichtung entgangen,
Waren jetzt endlich zuhause, entronnen dem Krieg und dem Meere.
Ihn nur ließ eine Nymphe, die hehre Göttin Kalypso,
Weib und Heim nicht finden trotz all seinem Sehnen.“ (Odyssee I 11-13)
Gleich im Anschluss wird der Kontrastheld par excellence erwähnt: Agamemnon. Er wurde bei seiner Rückkehr von dem Geliebten seiner Frau, dem Aigisth getötet. Aber dem klugen, gottesfürchtigen Odysseus soll es doch nicht genauso ergehen, beraten die Götter. Und wenig später werden noch zwei weitere dieser Anderen gezeigt: Menelaos in Sparta und Nestor in Pylos, wie sie durch Telemach, Odysseus’ Sohn besucht werden (3. und 4. Gesang). Die Kontrastierung wiederholt sich auf der Götterebene: Alle hatten Mitleid mit Odysseus, nur Poseidon nicht. Der Leser muss den Zusammenhang kennen. Odysseus hat den schrecklichen einäugigen Kyklopen listig ein Auge ausgestochen, dieser aber ist der Sohn des Poseidon. Deswegen verhindert dieser mit allen Mitteln die Heimkehr des Odysseus und lässt ihn nach einem verheerenden Seesturm (5. Gesang) noch auf der Insel der Phäaken (5. bis 12. Gesang) verweilen, wo Odysseus die gesamte Vorgeschichte dessen erzählt, was seit der Abfahrt von Troja bis zur Landung bei Kalypso geschehen ist (7. Gesang, 9. bis 12. Gesang). Die Begegnung mit Achill und Agamemnon im 11. Gesang ist Teil dieser Erzählung. Die zweite Hälfte der Odyssee spielt sich komplett auf Ithaka ab und beinhaltet die Wiedererkennung zwischen Odysseus und Penelope und den Kampf gegen die Freier.
Doch nun zur Unterwelt. Nach homerischer Vorstellung gibt es nicht die Alternative „Paradies oder Hölle“. Vielmehr irren die Verstorbenen nach dem Tode sämtlich als Schatten in der Unterwelt umher. Dorthin hatte ihn die Zauberin Kirke geschickt, damit er vom Seher Teiresias Aufschluss über sein weiteres Schicksal erhalte. Der Seher prophezeit Odysseus ein langes glückliches Leben im Kreise seines Volkes und seiner Familie (vgl. Odyssee XI 134-137). Odysseus trifft in der Unterwelt neben vielen anderen Toten auch Agamemnon und Achill, die beide ihr Schicksal beklagen und dasjenige des Odysseus preisen. Odysseus wird nicht wie Agamemnon von seiner Frau ermordet werden, sondern Penelope wartet auf ihn und auch Telemach lebt (vgl. Odyssee XI 444-453). In der Begegnung mit Achill wird deutlich, welch ein Ort die Unterwelt wirklich ist und dass sie alle hehren Vorstellungen über einen ehrenhaften Tod Lügen straft. Odysseus begrüßt Achill, der mittlerweile zum Herrscher in der Unterwelt geworden ist, nämlich mit folgenden Worten:
„Unglück ist meine Habe, doch glücklich wie du, mein Achilleus –
Keiner war es vordem und künftig wird es keiner werden.
Ehren gaben wir dir wie den Göttern, als du noch lebtest,
Wir die Achaier, und wiederum bist du ein kraftvoller Herrscher
Hier bei den Toten. Darum klage nicht, daß du gestorben, Achilleus.“
(Odyssee XI 481-486)
Achill antwortet folgendermaßen:
„Sage mir ja kein verschönendes Wort für den Tod, mein Odysseus!
Strahlender! Lieber wäre ich Knecht auf den Feldern und fronte
Dort einem anderen Mann ohne Land und mit wenig Vermögen;
Lieber tät’ ichs als herrschen bei allen verstorbenen Toten.“ (Odyssee XI 488-491)
Dass man aus Homer irgendwelche Argumente ableiten könne, es sei süß, fürs Vaterland zu sterben , wenn man ihn oberflächlich liest und Textstücke aus dem Zusammenhang reißt, sollte spätestens hier deutlich geworden sein. Im 11. Gesang wird Odysseus also zunächst mit dem schlimmen Schicksal des ebenfalls heimgekehrten Agamemnon und dann mit dem des nicht heimgekehrten Achill konfrontiert. Einander werden die beiden Toten Achill und Agamemnon noch einmal 24. Gesang begegnen, als die getöteten Freier in die Unterwelt kommen. Achill sagt dort über Agamemnon, der höchste Herrscher sei am tiefsten gesunken und „dem kläglichsten Tod“ (Odyssee XXIV 34) verfallen. Agamemnon hingegen preist Achill glücklich, der fern von der Heimat ruhmvoll fiel und ehrenhaft bestattet wurde.
„Glücklich bist du, Pelide, du göttergleicher Achilleus,
Weil du vor Troja und ferne von Argos gefallen. […]
Edelster Ruhm wird immer dich zieren bei sämtlichen Menschen.
Aber nun ich – den Krieg wohl bestand ich – doch darf ich mich freuen?
Grause Vernichtung plante mir Zeus, und das bei der Heimkehr;
Mord durch die Hand des Aigisthos und die der verfluchten Gatttin.“
(Odyssee XXIV 34-97)
Im Gespräch mit einem Freier preist Agamemnon Odysseus glücklich:
„Glücklich bist du, Odysseus, du findiger Sohn des Laertes!
Wahrlich du hast dir ein Weib mit vortrefflichen Gaben erworben! […]
So wird denn der Ruhm ihres trefflichen Wesens
Niemals vergehen. Unsterblichen werden die Menschen auf Erden
Liebliche Lieder zu Ehren der klugen Penelopeia
Lehren; sie sann nicht auf Untat, so wie Tyndareos’ Tochter.
Diese erschlug ihren Mann; das gibt wohl für hässliche Lieder
Stoff in der Welt und in Zukunft. Fraulichen Weibern indessen
Schafft sie bedrückenden Leumund, auch denen, die tüchtig geraten.“
(Odyssee XXIV 192-202)
Agamemnon hat das letzte Wort in der Unterwelt. Die Passage ist teilweise selbstreflexiv. Denn die Odyssee ist ja selbst das entscheidende liebliche Lied zu Ehren der klugen Penelopeia. Vergleicht man noch einmal abschließend die drei Heroen, so ist die Hierarchie nun aufsteigend folgende: Agamemnon, Achill, Odysseus. Damit kehrt sich die nach Macht gestufte Rangordnung der Ilias im Grunde genau um, schaut man darauf, wer das erfüllteste und aus Sicht der Heroen selbst beste Leben und Schicksal hat. Im unmittelbaren Anschluss an diese Unterweltsszene endet die Odyssee mit der Begegnung zwischen Odysseus und seinem Vater Laertes sowie der abschließenden Verhinderung der Rache der Angehörigen der getöteten Freier an Odysseus durch Athene und Zeus.
3 Die Historizität des Trojanischen Krieges
Der Trojanische Krieg muss, wenn es ihn denn gegeben hat, um 1250 v. Chr. stattgefunden haben. Homers Ilias entstand ca. 500 Jahre später, um 750 v. Chr. Doch hat es den Trojanischen Krieg überhaupt wirklich gegeben? Für die Antike galt er als historisch. Alexander der Große besuchte das Grab Achills. Thukydides und auch Strabo berichten davon als einer historischen Tatsache. Doch wie denken wir heute darüber? Obwohl die Archäologie Kenntnisse über die Stadt Troja und ihre Zeit gewonnen hat, bleibt der Trojanische Krieg bis heute rätselhaft. Was man weiß, beruht vor allem auf den Ausgrabungen von Manfred Korfmann und seinen Nachfolgern sowie den Forschungen von Joachim Latacz. Die Mykener, von denen heutige Historiker sprechen, wenn sie die Griechen meinen, die Homer als Achaier, Danaer und Argeier ansprach, waren ein kriegerisches und reiches Volk, das im 17. Jhd. v. Chr. die Macht auf dem griechischen Festland erlangte und den Höhepunkt seiner Herrschaft im 14. und 13. Jahrhundert v. Chr. besaß. Sie hatten ausgedehnte Kontakte mit den Trojanern und es ist belegt, dass sie oft Gefangene von dort mitnahmen. Die Trojaner hingegen waren ein mit den Hethitern verwandtes Volk in Westanatolien. Troja, griechisch „Ilion“ bzw. „Ilios“ ist wahrscheinlich identisch mit dem hethitischen „Wilusa“. Dieses „Wilusa“ besaß eine gewisse Macht, weil es den Zugang zum Marmarameer und zum Schwarzen Meer kontrollierte. Ein Vertrag, den Hethiterkönig Muwattali II. und ein Alaksandu aus Wilusa um 1300 v. Chr. schlossen, verpflichtet Letzteren sowie seine Söhne und Enkel zum Treueschwur und macht Wilusa somit zum Vasallenstaat der Hethiter. Ein Hinweis auf eine mögliche kriegerische Auseinandersetzung zwischen Ahhiyawa = dem Land der Achäer bzw. Griechenland und den Trojanern findet sich in einem Brief, den König Hattusili III. um 1250 v. Chr. an einen nicht namentlich genannten König von Ahhiyawa schrieb, wo die Rede ist von „der Frage von Wilusa, über die Feindschaft zwischen uns herrschte“ . Bald darauf ist das Hethiterreich zusammengebrochen. Die Forschung ist sich mittlerweile ziemlich sicher, dass es um 1200 v. Chr. einen Krieg gegeben hat und dieser um Wirtschaftsinteressen geführt wurde. Inwiefern eine Frau als Ursache oder Anlass mit im Spiel war, wird nie geklärt werden können.
4 Das Weiterleben Homers
Homers Dichtungen sind seit langem von Historikern, Philosophen, Literaten und auch Archäologen in ganz unterschiedlicher Weise rezipiert worden. Nach einem kurzen Überblick über die frühe Rezeption im antiken Griechenland und Rom möchte ich auf einen römischen Autor, Vergil, und auf einen neuzeitlichen, Goethe, etwas näher eingehen und Ihnen zeigen, dass es gerade die Auseinandersetzung mit Homer ist, die für diese gemeinhin als „klassisch“ angesehene Literatur von entscheidender Bedeutung ist.
4.1 Überblick
4.1.1 Griechenland
Unausgesprochene Verweise auf Homers Dichtung finden sich schon in Mitte des 7. Jahrhunderts v. Chr. bei Dichtern wie Alkman, Archilochos oder Tyrtaios, erstmals namentlich erwähnt wird Homer bei Herodot. Ihre endgültige schriftliche Form erhielten (nach Cicero) Homers Dichtungen im 6. Jahrhundert v. Chr. unter dem Tyrannen Peisistratos. In einem undatierten Erlass, der Solon, Peisistratos oder Hipparch zugeschrieben wird, wird festgelegt, dass sowohl die Ilias als auch die Odyssee an den Panathenaien, einem Fest, das im Juli zu Ehren der Göttin Athene abgehalten wurde, vollständig vorgetragen werden sollten. Platon und Aristoteles beziehen Homer in unterschiedliche Weise in ihre philosophischen Überlegungen ein. Die geisteswissenschaftliche Auseinandersetzung reicht zurück ins 4. Jahrhundert v. Chr., bis zu den Kommentatoren der alexandrinischen Schule. Vor allem Gelehrte in der Bibliothek in Alexandria (Zenodot von Ephesos, Aristophanes von Byzanz, Aristarch von Samothrake) beschäftigten sich im 3. und 2. Jahrhundert v. Chr. mit der Rekonstruktion und Kommentierung des verloren geglaubten originalen Homertextes. Alexander der Große wählte sich Achill zum Vorbild. Nackt rannte er zum angeblichen Grab des göttlichen Helden, während sein Geliebter Hephaistion das Grab von Patroklos, Achills Gefährten, bekränzte. Alexander besaß auch ein von Aristoteles, seinem Erzieher, kommentiertes Exemplar der Ilias, das er in einer kostbaren, dem Großkönig geraubten Schatulle bewahrte. Einem Diplomaten, den die Athener schickten, gewährte er eine Bitte. Der Diplomat hieß Achill. Aber nicht nur für Alexander, sondern auch für die Folgezeit wurde Homer selbstverständlicher Bestandteil des Schulunterrichts. Plutarch berichtet, dass der junge Alkibiades um 430 v. Chr. seinen Lehrer um ein Buch von Homer bat. Als der Lehrer antwortete, es gebe keins, versetzte Alkibiades ihm einen Hieb mit der Faust. In der mittelalterlichen byzantinischen Erziehung wurde von den Schülern erwartet, dass sie die Ilias nach mehreren Schuljahren auswendig konnten.
4.1.2 Rom
Aber nicht nur in Griechenland, sondern auch in Rom wurde Homer als ein wesentlicher Teil der Welt eines kultivierten Menschen erachtet. Ja die lateinische Literatur entwickelte sich in direkter Anlehnung an die griechischen Vorbilder. Den Beginn der lateinischen Literatur kann man ganz exakt auf das Jahr 240 v. Chr. datieren. Nach der siegreichen Beendigung des Ersten Punischen Krieges wurden in Rom zum ersten Male von Staats wegen Theaterstücke gezeigt. Eines davon war die Odusia des Livius Andronicus, eine Bearbeitung der Odyssee, von der jedoch nur sehr wenig erhalten ist. Hatte Livius Andronicus die Leser mit Homer bekannt gemacht, so war es Vergil, der sich ihn wetteifernd aneignete und geschickt für typisch römische Zwecke zu nutzen wusste.
4.2 Antike: Vergil (70-19 v-Chr.)
Aus heutiger Sicht mag man meinen, es sei doch wenig originell, aufgrund von Nachahmung die eigene Dichtung aus Bausteinen aus Homer zusammenzubasteln. Die Antike jedoch schätzte diese Vorstellung des „Originalgenies“, das aus sich selbst heraus etwas Neues erfindet, nicht. Für sie war „imitatio“, Nachahmung, immer auch „aemulatio“, ein Wetteifern mit dem Alten, das dieses gerade in der speziellen Art, wie es das tat, übertreffen sollte. Schauen wir uns Vergil an. Im Zentrum der Aeneis steht Aeneas, ein trojanischer Kämpfer, der bei Homer nur am Rande vorkommt, bei Vergil jedoch zum Gründer der Stadt Rom ausgestaltet wird. Bei der Gründung von Rom denken Sie sicher zuerst an Romulus und Remus. Doch es gab in der Antike drei legendäre Gestalten, die seit den frühesten römischen Jahrhunderten um die Position des Gründers der Stadt wetteiferten: Romulus, der mit seinem Zwillingsbruder von einer Wölfin gesäugt wurde, der Reisende Odysseus und Aeneas, der Überlebende von Troja. Es war Marcus Terentius Varro, der – Quintilian zufolge – im 1. Jahrhundert v. Chr. sich für Aeneas als Sieger aussprach. Vergil folgt Varro in der Präferenz des Aeneas, verknüpft ihn jedoch genealogisch auch mit Romulus. Die Verbindung des Aeneas mit Rom ist erst für die Zeit ab 400 v. Chr. bezeugt.
Aeneas flieht mit seinem Vater Anchises, seiner Frau Kreusa und seinem Sohn Ascanius/Iulus aus dem brennenden Troja. Ihm ist es durch das Schicksal bestimmt, nach Latium zu gelangen und dort zum Gründer Roms zu werden. Auf der Fahrt dahin muss er jedoch noch einigen Versuchungen widerstehen und auch kämpfen. Sie sehen: Der Gang von Vergils Aeneis greift sowohl die Ilias als auch die Odyssee auf, allerdings in umgekehrter Reihenfolge. In der ersten Hälfte werden Aeneas’ Flucht und Fahrten von Troja bis nach Latium geschildert, in der zweiten Hälfte seine Kämpfe in Latium, die schließlich zur Gründung Roms führten. Auf eine anfängliche „Odyssee“ folgt eine „Ilias“ am Zielort. Wie Odysseus bei Kalypso, so wird Aeneas bei Dido aufgehalten. Beide steigen ebenfalls in die Unterwelt hinab. Bestehen Ilias und Odyssee beide aus 24 Gesängen, so die Aeneis insgesamt aus zwölf.
Doch neben den Gemeinsamkeiten und Anspielungen sind vor allem die Unterschiede interessant. Betrachten wir in gewohnter Weise wieder zunächst den Beginn: „Arma virumque cano […]“: Von Waffen singe ich und von einem Mann. In dem „Mann“ erkennen wir die Anspielung auf Homers „andra“ = Odysseus/Odyssee wieder. Die „arma“ zeigen hingegen eine spezifische Lesart der Ilias. Wenn Vergil die Waffen in den Mittelpunkt stellt, interpretiert er es offenbar als Kriegsepos und nicht so sehr als Darstellung eines Vorgangs im Inneren des Achill: des Zornes. Der Eindruck, dass für Vergil das genaue Hinschauen auf die individuellen Besonderheiten eines Menschen nicht das Entscheidende ist, bestätigt sich auch inhaltlich. Die Hauptfigur Aeneas ist im Grunde ein wenig menschlich gezeichneter starrer Charakter, der sich letztlich in sein sowieso vorbestimmtes Schicksal fügt und für Rom kalt seine Geliebte Dido verlässt. Obwohl man in den letzten Jahren in der Aeneis dennoch eine gewisse Doppelbödigkeit entdeckt hat, mit der Vergil subtile Kritik übt, ist dieses Epos doch auf seiner Oberfläche Hofpoesie, die der Verherrlichung des Herrschers Augustus dient, dem Vergils Förderer Maecenas zugeneigt war.
4.3 Neuzeit: Goethe (1749-1832)
Dass Homer und Goethe zu den „ganz Großen“ der europäischen Literatur gehören, darüber ist man sich seit langem einig. So heißt es z. B. bei Ernst Robert Curtius: „Der Gründerheros (heros ktistes) der europäischen Literatur ist Homer. Ihr letzter universaler Autor ist Goethe.“
Goethe lernte Homer erstmals als Achtjähriger durch eine Übersetzung der Ilias durch seinen Onkel Loen kennen, die Welt der Odyssee durch eine deutsche Versübertragung des französischen Télémaque. Im Winter 1770 beginnt er, beeinflusst durch Herder, in Straßburg Homer auf Griechisch zu lesen und wird sich von dort an bis zu seinem Tod immer wieder mit ihm im Original beschäftigen. Die Zeit der intensivsten Homerlektüre sind die Jahre 1793 bis 1805. Auch mit Friedrich August Wolfs „Prolegomena ad Homerum“ setzte er sich in Gesprächen mit Schiller auseinander. Wolf hatte behauptet, die Homerischen Epen seien nicht von einem, sondern von mehreren Verfassern geschrieben. Goethe lehnte diese These zunächst ab, stimmte jedoch später zu. Im Sommer 1805 machte er Halt in Halle, um eine von Wolfs Vorlesungen zu hören. Den Vorteil von Wolfs These sah Goethe nämlich in Folgendem: Wenn Homers Dichtungen ein Flickenteppich aus verschiedenen Kompositionen seien, dann könnten sie als Quelle für Material fungieren, aus denen sich neue Meisterstücke machen ließen. Entsprechend forderte Goethe in der 1798 bis 1800 von ihm herausgegebenen Zeitschrift Die Propyläen durch Preisaufgaben zu Gestaltungen nach Homer und den griechischen Göttersagen auf. 1821 veröffentlichte Goethe nach langen Überarbeitungen seinen umfangreichen Auszug aus der Ilias von 1797.
An einem Beispiel möchte ich Ihnen jetzt zeigen, wie Homer in Goethes eigene Dichtung eingegangen ist. Goethe galten die Griechen, wie sie Homer gestaltet hat, „als beispielhaft für ein natürliches Leben, für kraftvolle Äußerung des eigenen Lebensanspruchs und für rebellische Haltungen.“ Wenn Sie „rebellisch“ und „natürlich“ hören, denken Sie vermutlich schon an Goethes Sturm-und-Drang-Zeit. In Die Leiden des jungen Werther heißt es im Brief vom 13. Mai: „Du fragst, ob Du mir meine Bücher schicken sollst? – Lieber, ich bitte dich um Gottes willen, laß sie mir vom Hals. Ich will nicht mehr geleitet, ermuntert, angefeuret sein, braust dieses Herz doch genug aus sich selbst, ich brauche Wiegengesang, und den hab ich in seiner Fülle gefunden in meinem Homer.“ Goethe meint bei Homer Menschen zu finden, die „ganzheitlich“ leben, deren Gefühl mit ihrem Verstand unmittelbar übereinstimmt, ohne durch moralische Aufklärungsliteratur geleitet zu sein. Die Literatur hat für Werther eine immense Bedeutung für das eigene Leben. Je nach eigener subjektiver Seelenlage findet er sich in verschiedenen literarischen Figuren wieder. Der schwärmerisch in Lotte verliebte Werther identifiziert sich mit der von ihm als idyllisch verstandenen Situation der Freier in der Odyssee, wenn sie am Feuer sitzen und Essen zubereiten:
„Wenn ich des Morgens mit Sonnenaufgange hinausgehe nach meinem Wahlheim und dort im Wirtsgarten mir meine Zuckererbsen selbst pflücke, mich hinsetze, und sie abfädne und dazwischen lese in meinem Homer; wenn ich denn in der kleinen Küche mir einen Topf wähle, mir Butter aussteche, meine Schoten ans Feuer stelle, zudecke und mich dazusetze, sie manchmal umzuschütteln: da fühl’ ich so lebhaft, wie die herrlichen übermütigen Freier der Penelope Ochsen und Schweine schlachten, zerlegen und braten. Es ist nichts, das mich somit einer stillen, wahren Empfindung ausfüllte, als die Züge patriarchalischen Lebens, die ich, Gott sei Dank, ohne Affektation in meine Lebensart verweben kann.“
Ironisch daran und Ausdruck intertextueller Vorausdeutung für den gebildeten Leser ist, dass sowohl die Freier als auch Werther am Ende sterben werden. Als sich Werthers Liebe jedoch nicht erfüllt und er sowohl sein Umfeld als auch die Natur zusehens negativer erlebt, wendet er sich von Homer ab und liest jetzt den düsteren Ossian. Dass es möglich ist, Literatur derart subjektiv in bestimmten Lebenssituationen zu favorisieren und in anderen abzulehnen, liegt an der besonderen Auffassung von Dichtung im Sturm und Drang. Kunst bedeutete in erster Linie Genie, Erfindung, Schaffen aus der ganz persönlichen subjektiven Empfindung heraus und auf keinen Fall Nachahmung. Unter dieser Voraussetzung kann man dann also immer den Autor lesen, der gerade der eigenen Befindlichkeit entspricht.
Ein zweiter wichtiger Aspekt ist, dass Homer von Goethe als ein Dichter angesehen wurde, der vor allem in der Odyssee eine Welt dargestellt hat, die „naiv“ noch mit sich eins ist, in der Verstand und Gefühl unmittelbar zusammenwirken. Interessant ist, dass Schiller in seinem Aufsatz Über naive und sentimentalische Dichtung die Schriftsteller in zwei Kategorien einteilte: diejenigen, die mit der Natur eins sind und sie auf die getreueste Weise abbilden (=naiv), und diejenigen, die von der Natur getrennt sind und, sich dessen bewusst, schöpferisch zu ihr zurückkehren wollen (=sentimentalisch). Schiller zählte Homer und Goethe zur ersteren Gruppe, sich selbst zur letzteren.
Neben Die Leiden des jungen Werther hat Goethe später noch eine ganze Reihe anderer Werke geschrieben, die in Auseinandersetzung und in Bezug auf Homer entstanden sind, so z. B. das Versepos Hermann und Dorothea von 1797 oder der Versuch, mit der Fragment gebliebenen Achilleis von 1798/99 ein klassizistisches Epos zu schreiben, das das Geschehen zwischen den Vorgängen der beiden Homerischen Epen gestaltet, den Tod des Achill. Was die Autoren von Vergil über Goethe bis zu Hölderlin von dezidiert modernen Autoren unterscheidet, ist die Tatsache, dass ihre Werke trotz aller Subjektivität im Sturm und Drang sich ganz selbstverständlich als in einer antiken Tradition stehend begreifen, die ohne Homer ganz undenkbar ist. Dass Homer jedoch, wenn auch stark verfremdet, in der Moderne nicht ganz verschwunden ist, zeigt z. B. der Roman Ulysses von James Joyce. Versatzstücke weiterer antiker Themen und Autoren greift z. B. Christa Wolf auf.
Schluss
Wir sind jetzt am Ende angekommen. Ich hoffe, Ihnen gezeigt zu haben, warum von Homer trotz seiner Rätselhaftigkeit eine so große Faszination ausgegangen ist und noch ausgeht, so dass man ihn zu Recht als eine Basis der europäischen Literatur bezeichnen darf. Vielleicht habe ich Sie ja auch dazu angeregt, sich mal wieder von Homer selbst faszinieren zu lassen und zur Ilias oder Odyssee zu greifen. Dass es über die bloße Lektüre hinaus sehr lohnenswert ist, um auch viele andere wichtige Werke besser zu verstehen, könnte ein zusätzlicher Anreiz sein.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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