Franz Kafkas „stehender Sturmlauf“
Annäherungen an einen rätselhaften Autor
Vortrag von Dr. Edgar Herrenbrück
am 16. Mai 2010 auf Einladung der Bibliotheksgesellschaft Hameln
in der Pfortmühle
Meine Damen und Herren,
Ende 2008 irgendwo in der Nähe der Holtenser Landstraße traf ich Bernd Bruns (Vorsitzender
der Bibliotheksgesellschaft Hameln). Es dauerte nicht lange, da sprachen wir über Literatur.
Ich erzählte ihm von meinen Kafka-Studien. Denn 2008 war Kafka-Jahr (125. Geburtstag),
und ich hatte für unseren Gesprächskreis ein Referat übernommen.
Mein Bericht muss auf Bernd Bruns wohl einen gewissen Eindruck gemacht haben, denn eines
Tages fragte er mich, ob ich nicht Lust hätte, hier (im Rahmen der Hamelner Bibliotheksgesellschaft)
über Kafka zu sprechen. Ich sagte zu, bat aber um einen späten Termin. Denn
ich wollte das Neue, was ich bei meiner Lektüre begriffen hatte, vertiefen. Dieser Vortrag ist
also ein Spätausläufer des Kafka-Jahres 2008.
Kafka ist ganz sicher der weltweit wirkungsmächtigste Autor deutscher Sprache. Aber seine
Texte laden nicht gerade zum Lesen ein. Ihre Welt ist paradox, labyrinthisch, unheimlich.
Und das so sehr, dass es dafür sogar ein eigenes Wort gibt: kafkaesk. Bei Google immerhin
24.200 Belege.
Ich möchte deshalb im Folgenden der Frage nachgehen, wie Kafkas literarischer Weltruhm
und dieses Kafkaeske zusammenpassen. Denn es ist ja nicht so, dass Kafka einfach mit Horroreffekten
die Welt aufrütteln wollte. Der Fall ist komplizierter. Seine Lösung führt aber,
meine ich, zum besseren Verständnis seiner Texte.
Zunächst ein kurzer Blick auf die Biografie
Franz Kafka wurde 1883 in Prag geboren – als Sohn des jüdischen Kaufmanns Hermann Kafka
und seiner Frau Julie, geb. Löwy. Er war das älteste von insgesamt sechs Kindern. Zwei
Brüder starben früh. Von den drei Schwestern wurde Ottla seine besondere Vertraute.
Der Vater stammte aus der böhmischen Provinz, aus einfachsten Verhältnissen. Als Vierzehnjähriger
verließ er sein Elternhaus, war als Wanderhändler und Handelsvertreter tätig, siedelte
nach Prag über und gründete dort Ende der 1870er Jahre ein Galanteriewarengeschäft (Kurzwaren,
Modeartikel, Schirme u.a.). Der gesellschaftliche Aufstieg war für ihn als Juden nur zu
erreichen durch Assimilation, d.h. durch Anpassung an die deutsche Oberschicht in Prag. Zu
Hause wurde Deutsch gesprochen, die Kinder besuchten deutsche Schulen.
Prag war die Hauptstadt des Königreichs Böhmen (d.i. das heutige Tschechien), gehörte
bis 1918 zur Habsburger Monarchie mit Wien als Hauptstadt. Dort regierte Kaiser Franz Joseph
I. Franz Kafka trägt seinen Namen. Prag hatte um 1900 ca. 450 000 Einwohner, 90%
Tschechen, 5-6% Deutsche und 2% Juden. Bis 1918 waren die Deutschen die führende
Schicht. Kafka hatte an allen drei nationalen Gruppen seinen Teil: als Jude deutscher Sprache,
der auch fließend tschechisch sprach.
Der Vater erwartete von seinem Sohn die Fortsetzung des Aufstiegs. Die Erziehung beschränkte
sich allerdings oft auf die Zeit der täglichen Mahlzeiten: Da stellte der Vater bohrende
Fragen, gab bissige Kommentare oder schimpfte: „Es geht euch zu gut!“ Er konnte seinem
Sohn aber auch drohen: „Ich zerreiße dich wie einen Fisch!“ Oder er schrie ihn an mit
hochrotem Gesicht, machte eilig die Hosenträger los und legte sie griffbereit auf die Stuhlleh2
ne: Zwar schlug er seinen Sohn nicht, aber die bloße Drohung war für diesen fast ärger. Die
Häufigkeit solcher Erfahrungen führte zu Ängsten und Schuldgefühlen. (So steht es im „Brief
an den Vater“, 1919.) Kafka litt sehr unter diesem dominanten, vitalen Vater, floh deshalb
häufig in Krankheiten. Zwar gab es die fürsorgliche Zuwendung der Mutter, im entscheidenden
Augenblick stand sie aber immer auf der Seite des Vaters. Diese familiäre Grundsituation
hat sich für Kafka nie geändert. Er hat sich aus seinen Sohnesbindungen nicht befreien können.
Sein zentraler Lebensort blieb zeitlebens das Elternhaus. Den langen „Brief an den Vater“
aus dem Jahre 1919, eine Mischung aus Abrechnung und Versöhnungsversuch, schickte
er nicht ab.
Die weiteren biografischen Daten sind rasch genannt: Nach dem Besuch von Volksschule und
Gymnasium machte er 1901 das Abitur, studierte Jura und wurde 1906 zum Dr. jur. promoviert.
Nach Referendariat und einer kurzen Beschäftigung bei einer Versicherung trat er 1908
in die „Arbeiter-Unfall- Versicherungs-Anstalt“ (AUVA) in Prag ein und arbeitete dort als Jurist
in leitender Position.
Kafka blieb Junggeselle. Er war dreimal verlobt, zweimal mit Felice Bauer (1914, 1917) und
mit Julie Wohryzek (1919). Alle drei Verlobungen scheiterten. Über die Gründe wird zu reden
sein.
Im August 1917 Blutsturz, Ausbruch der Lungentuberkulose. Im Gefolge immer wieder längere
Klinik- und Sanatoriumsaufenthalte. Seit April 1920 Freundschaft und Liebe zu Milena
Jesenska, einer verheirateten Frau aus Wien. 1922 vorzeitige Pensionierung. Ende September
1923 zieht er mit Dora Diamant, einer 20 Jahre alten Ostjüdin, nach Berlin. Neuerlicher Ausbruch
der TB. Im März 1924 deshalb zurück nach Prag. Am 3. Juni 1924 stirbt Franz Kafka
an Kehlkopftuberkulose. Er liegt begraben auf dem jüdischen Friedhof in Prag.
Ich möchte, bevor wir zum Kern kommen, noch einen genaueren Blick auf Kafkas Berufsarbeit
werfen, damit Sie seine Wirklichkeitserfahrungen besser einschätzen können.
Die AUVA, in der Kafka als beamteter Jurist tätig war, hatte den Versicherungsschutz für die
Fabriken und Gewerbebetriebe in Böhmen zu besorgen, das waren immerhin 45.000 größere
Betriebe. Sein Berufsalltag verlangte Aktenlektüre, Erstellung von Statistiken, Begutachtung
von technischen Standards, Festsetzung von Versicherungsbeiträgen. Er musste Fabriken in
Nord- und Westböhmen besuchen und mit den Unternehmern verhandeln. Denn es hagelte
Einsprüche gegen die von der AUVA festgesetzten Versicherungsbeiträge. Belegt sind Auftritte
von Dr. Kafka 1911/12 vor Kreis- und Bezirksgerichten in Nordböhmen.
Seine Arbeit verschaffte ihm genaue Einblicke in den Betriebsalltag vor Ort. Täglich befasste
er sich mit den Folgen schwerer Arbeitsunfälle, die durch mangelnde Schutzvorkehrungen,
veraltete Technik, unzureichend gewartete Maschinen oder Übermüdung der Arbeiter ausgelöst
wurden. Abgetrennte Gliedmaßen durch Sägemaschinen oder Seilwinden, Skalpierungen
durch offen laufende Transmissionsräder, Verbrennungen, Vergiftungen und Verätzungen –
Kafkas nüchterne Berichte über juristisch genau begründete Schadensersatzansprüche offenbaren
die Schreckensseite der Industrie am Anfang des 20. Jahrhunderts.
Kollegen und Vorgesetzte Kafkas haben immer wieder sein außerordentliches Pflichtgefühl
und seine fachliche Kompetenz gerühmt. Er stieg auf bis zum stellv. Abteilungsleiter und war
für die AUVA so wichtig, dass sie 1915 seine Rückstellung vom Kriegsdienst durchsetzte.
Trotz dieser Erfolge – der Beruf war für Kafka bestenfalls eine Pflicht. Seine ganze Aufmerksamkeit
galt der Sicherung seiner inneren Existenz und das hieß letztlich: Sicherung seines
Schreibens. Das hört sich kompliziert an und ist es auch. Deshalb einige Erklärungen:
„Hinabgehen zu den dunklen Mächten“
Kafka war zurückhaltend, scheu, eher kontaktarm und auf Distanz bedacht. Sein Leben war
auf Prag fokussiert. Er hatte wenig Freunde, zu diesen wenigen aber ein enges Verhältnis.
Sein großer Vertrauter war seit 1902 der Schriftsteller Max Brod.
Die Konzentration auf Prag war nicht die Folge von mangelnden Gelegenheiten. Kafka wollte
es so. Fremde Länder, Völker und Kulturen waren nicht sein vordringliches Interesse, genauso
wenig wie Politik und Gesellschaft. Jedenfalls ist in seinen Tagebüchern und Briefen, die
zusammen immerhin sechs Bände füllen, davon kaum die Rede. Als 1914 der Erste Weltkrieg
ausbricht, schreibt Kafka ins Tagebuch: „Deutschland hat Russland den Krieg erklärt –
nachmittags Schwimmschule.“ Sogar seine Berufsarbeit spart er in den Tagebüchern aus.
Dafür sind dort mehr als 75 Träume aufgezeichnet. Denn was Kafka interessiert, das ist sein
eigenes Erleben, ist sein Körper mit seinen Schmerzen: Er klagt über nervöse Spannungen,
über Migräne. Er ist allergisch gegen Lärm. Er leidet unter Schlaflosigkeit und Kopfschmerz,
der ihn wie eine „Schußwunde“ quält. „Wenn ich erwache, sind alle Träume um mich versammelt,
aber ich hüte mich sie zu durchdenken.“ Solche Störungen mischen sich auf massive
Weise in sein Leben ein, schaffen immer wieder schlaflose Nächte, denen lähmende Tage folgen.
Traumbilder wie „stehendes Marschieren“ und „stehender Sturmlauf“ bedrängen ihn. An
Max Brod schreibt er im April 1913: „Vorstellungen wie z.B. die, daß ich ausgestreckt auf
dem Boden liege, wie ein Braten zerschnitten bin und [ich] ein solches Fleischstück langsam
mit der Hand einem Hund in der Ecke zuschiebe – solche Vorstellungen sind die tägliche
Nahrung meines Kopfes.“ Das waren nicht einfach Ängste vor Krankheiten und Sexualängste
– das war mehr: Kafka wusste, dass er in extremen psychischen Erfahrungen lebte: Zwangsund
Strafphantasien, Selbsthass, überwältigende Tagträume, äußere Impressionen, die das Ich
für Stunden überfluteten, Angst vor Entgrenzung, letztlich Todesängste. All das war nicht
normal, war dem Wahnsinn nahe.
Wohl deshalb hat Kafka schon seit seinen Studientagen damit begonnen, seine Lebensführung
einem strengen Gesundheitsprogramm mit den Schwerpunkten „Natürlichkeit“ und „Askese“.
zu unterwerfen. Er trainiert seinen Körper, macht täglich 10 Min Gymnastik nackt vor dem
offenen Fenster, er schwimmt, rudert, fährt in rasantem Tempo Fahrrad, spielt Tennis. Im
Winter lange Spaziergänge, auch bei Frost nur im leichten Mantel. Vorliebe für ungeheizte
Räume. „Ich bin gegen Kälte fast besser abgehärtet als ein Stück Holz“, schreibt er. Natürlichkeit
auch beim Essen: Verzicht auf Fleisch, auf Alkohol und Drogen. Statt dessen Milch,
Kompott, Joghurt, Gemüse, Nüsse. Und wenn er kaut, dann langsam und lang.
Nein, Kafka war kein früher Wellness-Typ, kein Bio-Freak. Hinter dieser strengen Praxis von
Natürlichkeit und Askese steckte mehr: „vollkommene Kontrolle über Leib und Leben“, und
das hieß im Kern: Sicherung des literarischen Schreibens. Denn Schreiben war für ihn existenzielle
Notwendigkeit. „Meine Lebensweise ist nur auf das Schreiben hin eingerichtet, und
wenn sie Veränderungen erfährt so nur deshalb, um möglicher Weise dem Schreiben besser
zu entsprechen.“ So 1912. Und einige Wochen später: „Schreiben heisst ja, sich öffnen bis
zum Übermass; [heißt] äusserste Offenherzigkeit und Hingabe ... Deshalb kann man nicht genug
allein sein, wenn man schreibt, deshalb kann es nicht still genug um einen sein, wenn
man schreibt, die Nacht ist noch zu wenig Nacht.“ Im August 1914, der Erste Weltkrieg ist
gerade ausgebrochen und auf den Straßen herrscht die große Kriegsbegeisterung, da schreibt
Kafka ins Tagebuch: „Der Sinn für die Darstellung meines traumhaften inneren Lebens hat alles
andere ins Nebensächliche gerückt ... Nichts anderes kann mich jemals zufriedenstellen.“
Dieses Schreiben war auch Bändigung seiner Ängste. Schon früh hatte er sie „Gespenster“
genannt: „Sie kamen durch alle Türen, die geschlossenen drückten sie ein. Es waren große
knochige, in der Menge namenlose Gespenster ... Schrieb man, so waren es lauter gute Geister,
schrieb man nicht, so waren es Teufel.“ Noch 1922 sagt er: „Das Schreiben erhält mich. ...
Dieses Hinabgehen zu den dunklen Mächten, diese Entfesselung von Natur aus gebundener
Geister, fragwürdige Umarmungen ... von dem man oben nichts mehr weiß, wenn man im
Sonnenlicht Geschichten schreibt. Vielleicht gibt es auch anderes Schreiben, ich kenne nur
dieses.“
Schreiben als „Hinabgehen zu den dunklen Mächten“ – tief in der Nacht war das nur möglich,
zwischen 11 Uhr und 2 oder 3 Uhr nachts. Nur dann, allein und ungestört, konnte Kafka sich
dem Schreiben ganz hingeben. Denn - und das ist ein entscheidender Punkt - er schreibt nicht
nach einem bestimmten Plan. „Man muß wie in einem dunklen Tunnel schreiben, ohne daß
man weiß, wie sich die Figuren entwickeln werden.“ Das Erfinden der Geschichte fällt mit
dem Schreiben zusammen. Es ist schwer, sich das vorzustellen. Offenbar ein Schreiben wie in
Trance, Intuition. Aber Intuition nicht wie die deutschen Romantiker, die sich als Sprachrohr
des Weltgeistes fühlten. Nein, es sind Kafkas ureigenste Bilder, Träume, Ängste, Phantasien,
die ihn unaufhörlich bedrängen und die er nun zu Texten formt oder die sich ihm zu Texten
formen. Er wird dann im „Feuer zusammenhängender Stunden fortgerissen“, wohnt ganz und
gar in jedem Einfall, so dass er sagen kann, er und sein Schreiben seien eins. So musste er
schreiben. Nur solches Schreiben bewahrte ihn vor psychischer Zerrüttung.
Die Fähigkeit zu solchem Schreiben hat Kafka sich erst erarbeiten müssen. Es gibt ein klares
Datum, wo es zum erstenmal gelingt: die Nacht vom 22./23. September 1912. Hören Sie, was
er darüber gleich am nächsten Morgen ins Tagebuch schreibt: „Diese Geschichte ‚das Urteil’
habe ich in der Nacht von 22 zu 23 von 10 Uhr abends bis 6 Uhr früh in einem Zug geschrieben.
Die vom Sitzen steif gewordenen Beine konnte ich kaum unter dem Schreibtisch hervorziehn.
Die fürchterliche Anstrengung und Freude, wie sich die Geschichte vor mir entwickelte
wie ich in einem Gewässer vorwärtskam. Mehrmals in dieser Nacht trug ich mein Gewicht
auf dem Rücken. Wie alles gewagt werden kann, wie für alle, für die fremdesten Einfälle ein
großes Feuer bereitet ist, in dem sie vergehn und auferstehn. ... Nur so kann geschrieben werden,
... mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele.“ Diese Nacht hat Kafka
als die Geburt seines wahren Autor-Ichs betrachtet.
Sehen wir uns deshalb diese Erzählung näher an:
Georg Bendemann, die Hauptfigur, ist ein junger Kaufmann. Er hat von seinem Vater das Geschäft
übernommen und sich vor kurzem verlobt. Das schreibt er seinem Freund in Russland,
lädt ihn zur Feier ein. Darauf geht er ins Zimmer seines alten, schon gebrechlichen Vaters und
erzählt ihm davon. Der Vater macht ihm Vorhaltungen. Georg aber beruhigt ihn, trägt ihn ins
Bett und deckt ihn zu. Ein hochsymbolischer Vorgang: Der Sohn möchte den Vater ruhigstellen.
Der Vater spürt das offenbar. Denn plötzlich richtet er sich, der eben noch gebrechlich
schien, groß im Bett auf, hält dem Sohn schärfstens seine Fehler vor und verurteilt ihn zum
Tod durch Ertrinken. Und der Sohn hetzt sofort zum Fluss und vollzieht das Urteil.
Das also ist die Geschichte. Wie passt ihre archaische Vorstellung von Gericht und Strafe ins
Jahr 1912? Da herrschten doch schon längst Aufklärung und Rechtsstaatlichkeit. Der Einwand
wäre richtig, wenn Kafkas Schreibweise realistisch wäre, d.h. wenn sie sich um Wahrscheinlichkeit,
um Motive und Gründe des Handelns kümmern würde. Das aber tut sie gerade
nicht. Wenn also der eben noch gebrechliche Vater im Bett aufspringt, seinen Sohn anklagt
und ihn zum Tode verurteilt, dann ist das zwar ganz unrealistisch, aber ein bildlicher Ausdruck,
ein Zeichen für die große Macht und Stärke des Vaters. Und ein weiteres bildliches
Zeichen ist es, dass der Sohn dieses Urteil wie unter Zwang sofort vollstreckt. Diese Art der
Bildlichkeit bezeichnet man als Traumlogik. Das heißt, dass sich das Geschehen nach der Art
der Träume ereignet. Dies betrifft die Eigenart der einzelnen Bilder wie ihre Verknüpfung
miteinander. Aber Vorsicht: Zum Traum gehört nur die Darstellungstechnik, die Inszenierung.
Die Handlung selbst ist kein Traum, ist real.
Hören Sie nur, welche Intensivierung diese Traumlogik der Vollstreckung des Urteils verleiht:
„Georg fühlte sich aus dem Zimmer gejagt ... Aus dem Tor sprang er, über die Fahrbahn
zum Wasser trieb es ihn. Schon hielt er das Geländer fest wie ein Hungriger die Nahrung.“
Georg ist also nicht einfach gehorsam, da ist mehr: Es treibt ihn zum Wasser. Das ist traumlogische
Intensität und Dynamik, demonstriert die Macht des Vaters. Und ist eben kein
Traum. Denn der Sohn ertränkt sich wirklich!
Dieser Herbst 1912 ist für Kafka eine Phase außerordentlicher Produktivität. Er schreibt nicht
nur „Das Urteil“ und eine zweite Fassung des Romans „Der Verschollene“, sondern im Oktober
auch eine weitere Erzählung, vielleicht seine berühmteste: „Die Verwandlung“. Auch hier
ein Junggeselle, der mit seiner Familie im Konflikt liegt, nur besteht diese Familie aus Vater,
Mutter und Schwester. Und der Sohn heißt nicht Georg, sondern Gregor. Hören Sie!
„Die Verwandlung“
„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem
Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“ So nüchtern wird ein doch ganz unglaublicher,
unheimlicher Vorgang konstatiert. Und das gleich im ersten Satz und ohne weitere Erklärungen.
Einfach so! Es folgt nur die lapidare Bemerkung: „Es war kein Traum.“ Aber dieser
Käfer da im Bett ist ein traumlogisches Bild von ungeheurer Wucht. Und ist der Anfang
eines tödlich endenden Machtkampfes in einer Kleinbürgerfamilie.
Gregor scheint sich verschlafen zu haben. Aber es wird schnell klar, dass dieses Verschlafen
kein Zufall ist. Gregor ist Handlungsreisender. Mit seiner Arbeit ist er nicht zufrieden. „Tagaus,
tagein auf der Reise ... ein immer wechselnder, nie herzlich werdender menschlicher Verkehr.
Der Teufel soll das alles holen“, sagt er. Ihn quält aber nicht nur die Arbeit, es ist auch
wachsender Ärger auf die Familie. Gregor muss nämlich, nach einem geschäftlichen Unglück
seines Vaters, allein für den Unterhalt der vierköpfigen Familie sorgen. Gregor, Junggeselle
und bei seinen Eltern wohnend, fühlt sich schon lange durch diese Aufgabe geknechtet, hat
das aber aus Sohnespflicht verdrängt. An diesem Morgen nun schafft sich das Verdrängte einen
Weg nach außen: Die Käfergestalt ist traumlogisches Zeichen für Gregors Protest. Ein
unbewusster Streik. Und der Käfer ist groß. Die Bettdecke wölbt sich über ihm. Solch einen
Riesenkäfer gibt es in der Natur nicht. Er ist Tier auch nur nach außen, in seinem Denken und
Fühlen ist er weiterhin Gregor, der Sohn und Bruder. Man kann von Ich-Spaltung sprechen.
Die Eltern erstarren vor Schreck, als sie den Käfer im Türrahmen stehen sehen. Der Prokurist,
der herbeigeeilt ist, weil Gregor nicht zur Arbeit erschienen ist, sucht das Weite. Die Familie,
die nicht fliehen kann, sieht in dem Käfer immer mehr das ekelhafte Tier, nicht mehr den
Sohn und Bruder. Die Mutter ist tief verschreckt; der Vater treibt Gregor in sein Zimmer zurück,
bewirft ihn später mit Äpfeln, die das Tier im Rücken verwunden. Die Schwester, die
anfangs noch freundlich für Nahrung gesorgt hat, geht auf Distanz und verlangt seinen Tod,
weil Gregor sich ihr, von erotischen Wünschen getrieben, genähert hat, als sie Geige spielte.
Das zieht sich über mehrere Monate hin. Gregor erlebt, wie sein Zimmer Stück für Stück
leergeräumt wird und allmählich verdreckt. Er verweigert die Nahrung, schrumpft zusammen.
Schließlich gibt er auf. Seine Verbitterung wandelt sich in Rührung und Liebe, nicht aus Einsicht,
sondern aus Harmoniebedürfnis. Er stirbt deshalb versöhnt mit seiner Familie. Die hat,
je schwächer Gregor wird, um so mehr ihre frühere Vitalität und Zuversicht zurückgewonnen.
Alle drei haben wieder eine Arbeit aufgenommen. Nach Gregors Tod gehen sie hochgestimmt
ins Freie.
Die Wirkung dieser Geschichte auf einen unvorbereiteten Leser ist tiefes Erschrecken. Ein
Ungeziefer, ein Käfer, von der Größe eines Menschen - unfassbar! Und doch unverkennbare
Realität! Man merkt es an den verschreckten Reaktionen der anderen. Aber keiner holt einen
Arzt oder Apotheker. Oder gar die Feuerwehr! Die Verwandlung wird einfach hingenommen.
Keine Fragen nach dem Warum. Das ist Traumlogik. Der Prokurist flieht, das Familienleben
geht weiter. Aber natürlich sehr anders als zuvor. Gregor lässt sich füttern, versteckt sich aus
Rücksicht unter dem Kanapee oder kriecht, wenn er allein ist, die Wände hoch. Vater, Mutter
und Schwester lassen auf unterschiedliche Weise ihren Ekel spüren. Gregor hört eines Tages
durch die Tür, dass der Vater doch noch Geld besitzt, und begreift, dass er betrogen worden
ist.
So könnte man noch vieles betrachten. Hier nur noch eine Szene: Gregor hat gerade entdeckt,
dass er in einen Käfer verwandelt worden ist und die Zeit verschlafen hat. Mutter, Vater und
Grete, die Schwester, haben nacheinander geklopft. Da hört Gregor das Läuten der Hausglocke
und kurz darauf die Stimme des Prokuristen seiner Firma. Eltern und Prokurist stehen
jetzt vor seiner Tür und fordern ihn auf herauszukommen.
Während Gregors Käfermaul sich mit dem Türschlüssel abquält, spricht der Prokurist Gregor
durch die Tür an. Und zwar ausdrücklich „im Namen der Eltern und des Firmenchefs“. Er
fordert ihn zur Eile auf, deutet drohend eine mögliche Entlassung an. Gregor erschrickt über
diese Heftigkeit, vergisst seine Situation und beschwört in vielen Sätzen seinen unbedingten
Arbeitswillen. „Nur noch einen Augenblick Geduld“, ruft er durch die Tür. Auf der anderen
Seite aber hat man gar nichts verstanden. „Das war eine Tierstimme“, sagt der Prokurist.
Ich kürze ab. Es gelingt Gregor, den Schlüssel umzudrehen. Nun erscheint er in der Türöffnung,
nein, nicht Gregor erscheint, sondern der Riesenkäfer, der sich mühsam am Türpfosten
aufgerichtet hat. Die Wirkung dieses Bildes ist ungeheuerlich. Der Prokurist flüchtet panikartig
zur Flurtreppe. Gregor spürt sofort, dass er den Prokuristen auf keinen Fall in dieser
Stimmung gehen lassen darf, weil sonst seine Arbeitsstelle verloren ist. Er rennt ihm also
nach, um ihn zu beruhigen. Der Prokurist aber stößt einen Schrei aus, macht einen Sprung
über mehrere Stufen und ist verschwunden.
Eine Szene von grotesker Komik. Traumlogik pur! Denn Gregor hat in diesem Moment vergessen,
dass er auch Käfer ist. Er will den Prokuristen nur von seinem unbedingten Arbeitswillen
überzeugen. Also rennt er hinter ihm her, erreicht aber dadurch das genaue Gegenteil,
der Prokurist springt nur noch schneller die Treppe hinunter. Denn nicht Gregor, den arbeitswilligen,
sieht er da heranstürmen, sondern einen Riesenkäfer. Was Gregor mit seinem guten
Willen, also mit seinem Bewusstsein, schaffen will, eben das verhindert er mit seiner Käfergestalt,
also mit seinem unbewussten Protestpotential. Die Verwandlung bringt es an den Tag:
Was Gregor versprechen will, ist gelogen. Seine Arbeit als Reisender hat er ja noch kurz zuvor
zum Teufel gewünscht.
Das alles steckt in dieser Erzählung und zeigt die tödlich endenden Machtbeziehungen in einer
kleinbürgerlichen Familie zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Ausbeutung des Sohnes und
sein verdeckter Protest. Ganz sicher haben Kafkas Ängste, Träume und Strafphantasien hier
mitgespielt. Aber solche biografischen Elemente sind jetzt „von einem großen Feuer eingeschmolzen“
und wieder auferstanden in einer präzisen Erzählung von allgemeingültiger Kraft.
Felice Bauer 1912 - 1914
Diese produktive Schaffensphase Kafkas im Herbst 1912 hatte vor allem eine Ursache, und
die hieß Felice Bauer. Er hatte sie am 13. August im Elternhaus seines Freundes Max Brod
kennen gelernt. Und hatte sich in sie verliebt. Sonst so zurückhaltend, verabredet er mit ihr an
diesem Abend sogar eine Reise nach Palästina. Palästina und Zionismus waren damals für Juden
ein großes Thema. Wenn man diese Wirkung Felice Bauers auf Kafka sieht, muss man
bedenken: Kafka war damals 29 Jahre, Junggeselle, stand unter wachsendem Druck zu heiraten.
Da wirkte die Begegnung mit Felice wie eine Erlösung und setzte Kräfte frei.
Felice Bauer ist 24 Jahre alt, aus jüdischer Familie, lebt noch bei ihren Eltern in Berlin. Sie ist
gelernte Stenotypistin, jetzt aber bereits Verkaufsbeauftragte einer großen Berliner Grammophongesellschaft.
Kafka sieht in ihr die lebenstüchtige Frau, die ihm Sicherheit und Geborgenheit
geben kann. Er, der Getriebene, sucht solche Nähe. Aber er verträgt nicht die direkte
Begegnung. Briefe sind für ihn die richtige Mischung aus Nähe und Distanz. Ende Oktober
1912 setzen sie ein, schon bald schreibt Kafka täglich, oft lange Briefe, will alles von Felice,
ihrer Familie und ihrem Alltag wissen. Ende Januar ändert sich die Tonlage. Es wird ihm
deutlich, was die Ehe für sein Schreiben bedeutet. „Mein Leben bestand von jeher aus Versuchen
zu Schreiben ... Schrieb ich aber nicht, dann lag ich auch schon am Boden, wert hinausgekehrt
zu werden“, so im Brief an Felice. Wer so krass das Schreiben ins Zentrum seines
Lebens stellt, für den ist die Ehe ein Problem. Und tatsächlich: Zu einer Ehe wird es nicht
kommen. Aber das Drama dieser Beziehung zieht sich über fünf Jahre hin - mit zwei Verlobungen
und zwei Entlobungen, mit 511 Briefen und Postkarten allein von Kafka.
Bis Ende März 1913 hat Kafka davon schon mehr als 200 geschrieben. Erst da, Ostermontag,
sieben Monate nach dem ersten Treffen, sehen die beiden sich in Berlin wieder. Es reicht nur
zu einem kurzen Spaziergang im Grunewald. Neuerliches Treffen Pfingstmontag im Hause
Bauer. Von Heirat wird immer noch nicht gesprochen. Das geschieht dann aber im Juni 1913.
Kafka fragt mitten in einem viele Seiten langen Brief: „Willst Du unter der obigen leider nicht
zu beseitigenden Voraussetzung überlegen, ob Du meine Frau werden willst? Willst Du das?“
Der Brief ist ein Horrorbrief, weil Kafka die Ehe und auch sich selbst nur in Schreckensbildern
darstellt. Dafür noch ein Beispiel: „Du ... würdest [in der Ehe mit mir] ... die Aussicht
einen gesunden lustigen guten Mann zu heiraten,“ verlieren. Stattdessen „würdest Du einen
kranken schwachen, ungeselligen, schweigsamen traurigen, steifen, fast hoffnungslosen Menschen
gewinnen, dessen vielleicht einzige Tugend darin besteht, daß er Dich liebt.“
Jede nachdenkende Frau hätte diesen Antrag abgelehnt. Felice aber sagte Ja. Sie ahnte wohl
nicht, was das bedeuten würde.
Kafka war eben hin- und hergerissen zwischen seiner diffusen Sehnsucht nach Halt und Geborgenheit
in der Ehe und dem Wissen um das für ihn existenziell notwendige Schreiben, für
das die Ehe tödlich sein würde. Felices Ja hat ihn offenbar erschreckt. Jedenfalls fehlen in den
folgenden Briefen jetzt die Liebesversicherungen. Statt dessen im August ein Brief mit heftigsten
Selbstanklagen. Gleichzeitig im Tagebuch lauter Eintragungen gegen die Ehe. Vom
Plan gemeinsamer Ferien rückt er ab. Fährt statt dessen über Wien für drei Wochen an den
Gardasee.
Nach vielem Hin und Her - ich muss das jetzt raffen – wird dann doch Ostern 1914 bei einem
Besuch im Hause Bauer die offizielle Verlobung beschlossen. Noch im April erscheinen die
Verlobungs-Anzeigen in Berlin und Prag. Im Mai wird eine Wohnung in Prag gemietet. Am
1. Juni 1914 die Verlobungsfeier in Berlin. Kafka fühlt sich dabei „gebunden wie ein Verbrecher.“
Über ein künftiges Zusammensein schreibt er Felice: „Du empfängst die Gäste, ich die
Gespenster.“ Eine geheime Drohung. Denn Gespenster, das waren die Ängste, die Kafka
überfielen, wenn er sie nicht durch Schreiben in gute Geister verwandeln konnte. Felice spürt
all diese Stiche und wird aktiv. Am 12. Juli treffen sich Kafka und Felice in Berlin, Felice hat
ihre Schwester Erna und Grete Bloch mitgebracht. Die ist Felices Freundin und hat seit November
1913 eine sehr undurchsichtige Rolle als Vermittlerin gespielt. Jetzt ist sie auf Felices
Seite. Im Hotel Askanischer Hof gerichtsähnliche Situation - mit Felice als Anklägerin. Sie
hält Kafka sein Zögern und seine mangelnde Offenheit vor. Kafka ohne Widerspruch. Am
Ende akzeptiert er Felices Vorschlag, die Verlobung in beiderseitigem Interesse aufzulösen.
„Gerichtshof im Hotel“ nennt Kafka diese Szenen. Nach dem Bruch mit Felice drängen ihn
alle Kräfte zum Schreiben. „Wenn ich mich nicht in einer Arbeit rette, bin ich verloren.“ (Tagebuch)
Am 11.8.1914 Beginn. Der „Gerichtshof im Hotel“ wird zum Nukleus für einen neuen
Roman:
„Der Proceß“.
Der Prokurist einer Bank, Josef K., wird eines Morgens in seiner Wohnung verhaftet. Er erfährt,
dass ein Prozess gegen ihn läuft. Niemand aber kann ihm sagen, was man ihm vorwirft.
Er selbst ist sich keiner Schuld bewusst. Alle seine Versuche, selbst oder durch Mittelsmänner
Auskunft über das Gericht oder von dem Gericht zu bekommen, scheitern. Auch sein Anwalt
bleibt erfolglos. Der Prozess aber nimmt seinen Gang. Am Ende, nach einem Jahr, wird Josef
K. von zwei Herren abgeholt und in einem Steinbruch hingerichtet.
Das ist der Handlungskern des Romans; aber damit ist gar nichts gewonnen. Im Gegenteil, der
Gehalt des Romans wird durch die Eindeutigkeit solcher Zusammenfassung verfehlt. Denn in
diesem Roman ist alles unsicher und offen. Das beginnt schon mit der Verhaftung. Sie geschieht
durch zwei „Wächter“ in K.s Wohnzimmer. Trotzdem kann K. anschließend zur Arbeit
gehen, als wäre nichts passiert. Seltsam auch das Gericht: Es tagt auf Dachböden von
schäbigen Mietshäusern, die Richter vertrauen bezahlten Claqueuren, ihre Akten sind verschmierte
Notizblätter, manchmal mit pornografischen Bildern. Bei einem ersten Verhandlungstermin
stellt sich heraus, dass auch die Zuhörer Teil des Gerichts sind. Das kann keine
öffentlich-rechtliche Justiz sein. Aber was dann? Bis zum Schluss gibt es für K. keine Anklage
und erst recht kein Urteil. Traumlogische Bilder wieder, ohne Erklärungen.
Trotzdem beschäftigt sich K., der anfangs den Prozess einfach von sich weggedrückt hat, im
Laufe der Zeit immer mehr mit ihm. Das liegt u.a. daran, dass K. seinen Prozess nicht geheim
halten kann: In seiner Bank ist man darüber bereits informiert. Kein Wunder, denn drei Angestellte
seiner Bank waren bei der Verhaftung zugegen. Auch sein Onkel besucht ihn deswegen,
geht mit ihm zum Anwalt Dr. Huld, mit dem er befreundet ist. Dort erfährt K. viel über
das Gericht und die möglichen Verfahren. Auch andere Helfer findet er: den Kaufmann
Block, den Fabrikanten, den Maler Titorelli. Die Frauen, die er trifft, sind nur erotisch aufgeladene
Typenfiguren, innerhalb der von Männern beherrschten Ordnungen. Alle erzählen ihm
sehr viel über das Gericht und über die Wege, einen Prozess zu einem guten Ende zu führen.
Aber alles sind nur Behauptungen, Vermutungen. Viel Widersprüchliches und Absurdes.
Nichts Nachweisbares. K.s Bemühungen sind ein „stehender Sturmlauf“.
Höhepunkt in dieser Entwicklung ist eine Begegnung im Dom. Dort wird K. von einem Geistlichen,
dem Gefängniskaplan, angesprochen. Auch er gehört zum Gericht. K. erfährt, dass es
schlecht um seinen Prozess steht. Man halte ihn für schuldig. Der Kaplan bemüht sich, ihn das
Gericht besser verstehen zu lassen, und erzählt ihm eine Gleichnisgeschichte. (Unter dem Ti9
tel „Vor dem Gesetz“ hat Kafka sie später als Einzeltext veröffentlicht.) Aber sie ist nur der
Form nach eine Erklärungsgeschichte wie z.B. die Gleichnisse von Jesus im Neuen Testament.
Tatsächlich verstärkt sie nur die Paradoxien des Romans. „Richtiges Auffassen einer
Sache und Missverstehen der gleichen Sache schließen einander nicht vollständig aus“, sagt
der Geistliche.
Am Ende wird K. hingerichtet. Aber was ist nun K.s Schuld? Die Frage bleibt offen. Es gibt
darüber keinerlei Aussage. Unklarheit, Rätsel, Paradoxie bis zum Schluss. Und das ist gewollt.
Kafka erreicht das erzähltechnisch durch eine Darstellungsform, die damals, 1914/15,
durchaus neu, ja, revolutionär war: Er ersetzt den allwissenden Erzähler durch den personalen
Erzähler – das heißt, wir erfahren alles, was geschieht, nur aus der Perspektive von Josef K.
selbst. Und da dieser im Dunkeln tappt, tappt der Leser hinter ihm her. Denn es sind K.s
Wahrnehmungen und Behauptungen, seine Prahlereien und Ängste, die den Roman bis zum
Schluss durchziehen. Auch der Leser ist deshalb am Ende nicht klüger als Josef K. Aber der
Leser kann das Ganze noch mal überdenken und z.B. fragen: Worin besteht die Schuld, die
Josef K. bis zum Schluss bestreitet? Und die zweite Frage: Wie ist dieses seltsame Gericht zu
verstehen?
Die Schuld Josef K.s besteht offensichtlich darin, dass er sich nur an der Logik zweckrationalen
Denkens orientiert. Und dazu gehören auch Machtwille, Überheblichkeit, sogar Lügen.
Bei seiner ersten Vernehmung erklärt er seine Verhaftung als „lachhaft“, tut die Wächter als
„demoralisiertes Gesindel“ und das ganze Gerichtswesen als „sinnlos“ ab. Menschen behandelt
er nur dann gut, wenn sie ihm nützen können, so etwa den Mitangeklagten Block. K. sieht
deshalb die Schuld nur beim Gericht, nicht bei sich selbst. Denn er begreift die Schuldfrage
juristisch, nicht moralisch. Genau um das Moralische aber geht es dem Gericht, das ihn verhaftet
hat. Wieder klärt die Domszene: Da sagt K.: „Ich bin aber nicht schuldig ... Wie kann
ein Mensch schuldig sein.“ Darauf der Kaplan: „Das ist richtig. Aber so pflegen Schuldige zu
reden.“ Das zielt auf den Egozentriker K., auf sein Nicht-Begreifen und sein Verdrängen.
Es spricht deshalb viel dafür, das ganze Gerichtswesen als nach außen gewendetes Bild für
die Aufarbeitung von K.s verdrängter Schuld zu sehen. Denn Undurchsichtigkeit, Willkür und
Omnipräsenz prägen dieses Gericht. „Gerichtskanzleien sind doch fast auf jedem Dachboden“,
sagt der Maler Titorelli. Und er sagt sogar: „Es gehört ja alles zum Gericht.“. Weil K.
sich selbst nicht kennt, erscheint ihm seine verdrängte Schuld jetzt in den verfremdeten Bildern
eines Gerichts. Genau das meint der Gefängniskaplan, wenn er zu K. sagt: „Das Gericht
will nichts von dir. Es nimmt dich auf, wenn du kommst und entläßt dich, wenn du gehst.“
Vielleicht der wichtigste Satz des Romans.
Die Aktivität geht also gar nicht vom Gericht, sondern - unbewusst - von K. aus. Das erklärt
manche auffällige Einzelheit: z.B. wird K. morgens, noch im Bett, von zwei „Wächtern“ verhaftet.
Einer dieser Wächter erklärt K.: „Unsere Behörde ... sucht doch nicht etwa die Schuld
in der Bevölkerung, sondern wird ... von der Schuld angezogen.“ K kann sich nach seiner
Verhaftung auch weiterhin frei bewegen. Trotzdem befasst er sich aus eigenem Antrieb immer
intensiver mit dem Prozess, vernachlässigt zunehmend seinen Beruf. Sein Gewissen ist
offenbar erwacht. Er will sogar, weil es ja keinen konkreten Schuldvorwurf gibt, eine Eingabe
an das Gericht zu machen, in der sein „ganze[s] Leben“ dargestellt und überprüft wird. Natürlich
mit dem Ziel, damit seine Unschuld bewiesen zu haben. Er merkt nicht, dass er sich damit
gerade diesem Gericht nur noch stärker ausliefert. Denn K. kennt sich selbst nicht, weiß
nicht, was er alles verdrängt hat. Am Ende erwartet er bereits seine Henker, obwohl er keinerlei
Ankündigung erhalten hat, und geht mit ihnen Arm in Arm und in festem Gleichschritt zur
Richtstätte.
Wie kommt es zu diesem Verhalten von K.? Ist das ein Schuldeingeständnis aus Überzeugung?
Oder aus Schwäche? Oder ist es einfach Resignation? Und worin besteht dann die
Schuld? Alle diese Fragen bleiben offen. Der Leser muss sie beantworten. Es gibt keine verbindliche
Deutung mehr wie in den Werken von Lessing bis Thomas Mann.
Wie hier im „Proceß“ so ist es auch sonst bei Kafka: Die Figuren seiner Erzählungen und
Romane sind Kleinbürger, Angestellte, Aufsteiger, sind Durchschnittsfiguren. Sie alle geraten
- oft urplötzlich - in abgründige Situationen und existenzielle Bedrohungen. Ihre Rechtfertigungs-
und Durchsetzungsversuche enden immer mit ihrem Scheitern. Sie scheitern an anonymen
Instanzen und festgefahrenen Ordnungen. Erzähltechnisch wird das dadurch möglich,
dass Kafka nur aus der Perspektive der Hauptfigur erzählt. Nur so kann das Undurchsichtige,
das Paradoxe, kann der „stehende Sturmlauf“ dargestellt werden. Auffallend auch, dass diese
Personen immer allein stehen und dass sie zunehmend entindividualisiert sind. Die Hauptfigur
des Schloss-Romans heißt nur noch K. Es fehlt ebenso jede lokale, geographische Zuordnung.
Und schließlich: Die Texte sind ohne Botschaft. Das lehrt die Gleichnisgeschichte in der
Domszene: statt zu klären, verrätselt sie weiter.
Das Schreiben war für Kafka existenziell notwendig.. Dazu musste er ganz allein, ganz bei
sich selbst sein. Nur so konnte er die ihn bedrängenden Ängste und Wahngedanken auf Distanz
halten.. Damit muss es zusammenhängen, dass für ihn nicht das fertige Werk, sondern
der Prozess des Schreibens im Zentrum steht. Dieses Schreiben ist ein Akt von hoher Konzentration
und Intuition. Konzipieren und Schreiben fallen zusammen. „Für alle, für die fremdesten
Einfälle [ist] ein großes Feuer bereitet, in dem sie vergehn und auferstehn.“ Die
Traumlogik schafft Bilder von ungewöhnlicher Kraft und Verknüpfung, d.h. es fehlen Motive,
Gründe, Wahrscheinlichkeit. Unglaubliche Dinge ereignen sich, als seien sie normal und
selbstverständlich. Es wäre aber ein grobes Missverständnis, in Kafkas Schreiben bloße Therapie
gegen seine Ängste zu sehen. Zwar hatte es zweifellos auch solche Wirkung, aber ohne
die geniale Kraft, mit der Kafka diese inneren Anstürme gestaltete und formte, wäre er längst
ein Vergessener. Seine Sprache schafft eine äußerste, kaum sonst in der Weltliteratur erreichte
Klarheit und Prägnanz, ohne expressive Effekte. Gerade diese Verknüpfung von sachlich klarer
Sprache mit unglaublichen Inhalten schockiert den Leser.
Aber es bleibt nicht bei diesem Schock. Und das ist nun - so möchte ich es ausdrücken - das
Wunder: Diese Texte des introvertierten Prager Juristen spiegeln zugleich die Albträume der
Moderne wider: Anonymität, Angst, Paradoxie, Bürokratie. Kafka hat den Grundton der modernen
Zeit getroffen. Das war, wie gesagt, nicht seine Absicht. Das Schreiben war ihm wichtig,
nicht das Veröffentlichen. Ganze 350 Druckseiten waren es zu Lebzeiten! Sein Ruhm begann
erst nach 1945, als die mit Beginn des Ersten Weltkriegs entflammten Gemeinschaftsgefühle
desavouiert und zusammengebrochen waren. Zu diesem Gemeinschaftsenthusiasmus
hat Kafka immer deutliche Distanz bewahrt. Selbst von der Zionismus-Begeisterung seines
Freundes Max Brod hat er sich ferngehalten. Es war vielleicht gerade die aus persönlicher Not
gewonnene Authentizität seiner Texte, verbunden mit seiner Gestaltungs- und Sprachkraft,
die so beeindruckte. Denken Sie an die Verbreitung des Wortes ‚kafkaesk’! Hat die gegenwärtige
Finanzkrise in ihrer Undurchsichtigkeit nicht kafkaeske Züge? Und wenn der Dow
Jones in wenigen Minuten um 1000 Punkte fällt und keiner weiß warum – kafkaesk!
Chassidische Traditionen
Im Januar 1915 endet diese produktive Phase Kafkas. Inzwischen war der Erste Weltkrieg
ausgebrochen. Trotz seiner Distanz zur Politik können Kafka die Auswirkungen des Krieges
nicht entgangen sein: die vielen Verwundeten, die Kälte, der Hunger. Die lange Schlangen
vor den Geschäften. Und gleich in den ersten Kriegswochen die Scharen von jüdischen
Flüchtlingen aus Ostgalizien, aus dem „Schtetl“, von den Russen vertrieben. Bis Ende 1914
waren es 11.000 allein in Prag. Die Prager Juden, die sich zuerst sehr um ihre Glaubensbrüder
gekümmert hatten, standen mit ihren offenen westjüdischen Ansichten bald im Konflikt mit
den festen Traditionen der Ostjuden. Diese Traditionen heißen u.a. Kabbala und Chassidismus,
das sind Formen mystischer Volksfrömmigkeit der osteuropäischen Juden.
Kafka hatte, anders als etwa Max Brod, mit diesen Traditionen keine Probleme. Er hatte sie
schon 1911 entdeckt, als er mit dem jiddischen Schauspieler Jizchak Löwy und dessen Theater
Freundschaft schloss. Jetzt, noch 1914, steigerte sich sein Interesse für diese Erscheinungen
des Jüdischen. Die Begegnung mit Mordechai Langer, einem zur ostjüdischen Orthodoxie
gewechselten Westjuden, erweiterte sein Wissen. Mit Langer besuchte er auch Prediger der
Kabbala in Prag und in Marienbad. Es gibt lange Tagebucheintragungen über diese Besuche.
Was Kafka an dieser ostjüdischen Frömmigkeit interessiert, ist ihr geistiger Anspruch, ist die
Wahrhaftigkeit, mit der sie gelebt wird. Die chassidischen Erzählungen waren ihm vertraut
und lieb. Kein Zweifel, dass diese Geschichten sein Schreiben stimuliert und zur neuen produktiven
Phase im Winter 1916/17 beigetragen haben.
Auch die äußeren Umstände waren gut für das Schreiben: Denn im November 1916 hatte Ottla
ein kleines Haus in der Alchimistengasse gemietet und es dem Bruder überlassen. Obwohl
klein und karg, bot es die Ruhe, die Kafka brauchte. Hier entstanden viele seiner bedeutendsten
Erzählungen. Fast alles sehr kurze Texte. Es sieht so aus, als habe er die verschiedensten
Formen ausprobieren wollen: Fabel, Parabel, Märchen, Bericht; Rückblende; Ich- und Er-
Perspektive. Vielfalt der Motive und Themen. Aber er ahmt diese Formen nicht nach. Er
schmilzt sie ein im nächtlichen Feuer des Schreibens. Man spürt gegenüber den Strafphantasien
der früheren Jahre jetzt eine neue Freiheit, eine beinahe unwirkliche Dichte und Perfektion.
Es sind die Kafka-Texte, die auch in unseren Lesebüchern stehen: „Der Nachbar“, „Der
Kübelreiter“, „Die Sorge des Hausvaters“, „Ein Bericht für eine Akademie“, „Der Schlag ans
Hoftor“ oder „Auf der Galerie“:
Da, auf der Galerie, steht ein Zuschauer und wirft einen doppelten Blick nach unten auf eine
Kunstreiterin in der Zirkusmanege. Zuerst sieht er sie hinfällig und lungensüchtig, von einem
erbarmungslosen Chef im Kreis getrieben. Dann aber als schöne Dame, weiß und rot, von einem
Direktor hingebungsvoll geführt. Zwei Versionen der Wirklichkeit, zwei Übersteigerungen,
wie sie in der Welt des Zirkus normal sind. Der Galeriebesucher greift nicht ein, kehrt in
seinen Traum zurück. Wenn er weint, ohne es zu wissen, lassen sich die Gründe nur vermuten:
z.B.: - Es gibt keine objektive Realität. - Auch der Schmerz und die Qual gehören zur
Kunst. - Sein und Schein sind nicht zu trennen. (Fortsetzung erwünscht!)
Und dann, ähnlich berühmt, „Eine kaiserliche Botschaft“. Ich habe sie an den an Schluss gestellt,,
weil sie diesen Vortrag aufs anschaulichste zusammenfasst. „Der Kaiser – so heißt es –
hat Dir, dem Einzelnen, dem jämmerlichen Untertanen ... von seinem Sterbebett aus eine Botschaft
gesendet. Den Boten hat er beim Bett niederknien lassen und ihm die Botschaft ins Ohr
zugeflüstert; so sehr war ihm an ihr gelegen, daß er sich sie noch ins Ohr wiedersagen ließ.
Durch Kopfnicken hat er die Richtigkeit des Gesagten bestätigt.“ Merken Sie, wie wichtig
diese Botschaft sein muss? Und der Bote ist kräftig und unermüdlich. Und dann doch das
Scheitern! Der Bote kommt und kommt nicht voran. Die Hindernisse sind zu groß. Und sie
sind menschengemacht: Palastzimmer, Treppen und Höfe, Gemächer und Wohnstätten. Es ist
kein Durchkommen. „Stehender Sturmlauf“! Traumlogisch. Vernunft und Aufklärung sind
entmachtet! Der Kaiser hat den Kontakt zu seinen Untertanen verloren. Seine Botschaft erreicht
sie nicht mehr. „Du aber sitzt an Deinem Fenster und erträumst sie Dir, wenn der
Abend kommt.“ So der letzte Satz.
Haben Sie gemerkt, wie raffiniert Kafka hier mit der Anrede umgeht? Er spricht mit dem ersten
Satz zwar formal den Untertan im Text an. „Der Kaiser hat Dir, dem Einzelnen , dem
jämmerlichen Untertanen...“. Aber unwillkürlich muss sich auch der Leser oder Hörer angesprochen
fühlen, wenn er das liest oder hört. Wie ist es Ihnen eben ergangen? Ich denke, diese
Doppelung ist Absicht. Auch der Leser/Hörer ist gemeint, er soll die Botschaft auf sich beziehen.
Aber nun kommt’s: Der Inhalt der Botschaft wird mit keiner Silbe erwähnt. „Du“ Leser/
Hörer musst sie dir erträumen. So steht es ausdrücklich im letzten Satz. Und das „Du“
steht jetzt allein und ist damit frei - für Untertanen wie Leser gleichermaßen zu gebrauchen.
Auch Sie sind also aufgefordert, im Feuer ihrer Konzentration die Deutungselemente zu Erkenntnissen
zusammenzuschmelzen.
Es muss ja nicht immer tief in der Nacht sein!